Susanne Ude-Koeller / Thomas Fuchs / Ernst Böhme (Hgg.): Wachs Bild Körper. Moulagen in der Medizin. Begleitband zur Ausstellung im Städtischen Museum Göttingen vom 16.9. bis 16.12.2007, Göttingen: Universitätsverlag Göttingen 2007, 88 S., ISBN 978-3-940344-00-7, EUR 15,00
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Moulagen sind Wachsabformungen erkrankter Körperteile oder veränderter Hautpartien; dreidimensionale Schnappschüsse, die aus der Dynamik des Krankheitsverlaufs einen Moment herausschneiden und als plastisches Standbild festhalten. Durch das Anfertigen der Moulage wird das Bild der Krankheit vom kranken Körper entkoppelt, wird archivierbar, vergleichbar und jederzeit verfügbar. Damit waren Moulagen ideale Lehrmedien für diejenigen medizinischen Disziplinen, die sich mit Krankheiten an der Oberfläche des Körpers beschäftigten, allen voran für die Dermatologie.
Ausgehend von Paris entstanden Ende des 19. Jahrhunderts die ersten dermatologischen Moulagensammlungen. Mit der Etablierung der Dermatologie als eigenständiger akademischer Disziplin gewannen die Moulagen zunehmend an Bedeutung, bis sie im Laufe des 20. Jahrhunderts von den neuen Medien abgelöst wurden. Farbdias, Videotechnik und digitale Fotografie verdrängten die Moulagen aus der Lehre, die Wachsbilder gerieten in Vergessenheit. Erst in den letzten Jahren sind die universitären Moulagensammlungen wieder mehr in das Zentrum des Interesses gerückt. Sie profitierten nun von den neuen Forschungsrichtungen in der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte, die sich mit den Orten, den Objekten und den Ordnungen des Wissens beschäftigen.
Doch nicht nur aus wissenschaftshistorischer Perspektive sind Moulagen eine Betrachtung wert. Auch in der medizinischen Lehre könnten sie immer noch mit Gewinn eingesetzt werden. Denn sie haben den neuen Medien eines voraus: die dritte Dimension.
Aus eben diesem Grunde ist die einzige Publikationsform, die den Moulagen wirklich gerecht wird, die der Ausstellung. Nur wer ihnen persönlich gegenübertritt, kann die naturalistische Wirkung dieser mit höchster handwerklicher Präzision ausgearbeiteten Wachsabformungen würdigen. Doch im direkten Dialog mit der Moulage geschieht noch mehr - der Betrachter ergänzt unwillkürlich das ausschnitthafte Wachsbild zum vollständigen Körper, findet sich Auge in Auge mit einem historischen Individuum, mit dem "Patienten dahinter" [1], und projiziert dessen Leiden, dessen Verletzlichkeit und Sterblichkeit auf seinen eigenen Körper, wird selbst zum "(potentiellen) Patienten davor". In der direkten Begegnung verharren Moulagen nicht in der Sphäre des medizinischen Lehrmittels, sondern geben Raum zu vielschichtigen und weit gefächerten Assoziationen.
Es ist das Verdienst des Ausstellungsteams um die Kulturanthropologin Susanne Ude-Koeller, bei der Beschäftigung mit der Göttinger Moulagensammlung dieses in den Objekten schlummernde Potential wahrgenommen und wahrnehmbar gemacht zu haben. Die ursprünglich an der Universitäts-Hautklinik beheimatete "Moulagen-Sammlung Prof. Riecke" wurde 1993 an die Abteilung Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Göttingen übergeben und umfasst heute rund 80 Stücke. In einer facettenreich aufbereiteten und sensibel präsentierten Ausstellung im Städtischen Museum Göttingen konnten die Besucher ausgewählten Objekten aus dieser Sammlung - ergänzt durch Leihgaben aus Berlin, Erlangen, Dresden und Zürich - gegenübertreten. Die Technik der Moulagenherstellung wurde hier ebenso vermittelt wie der Blick auf das Schicksal der Patientinnen und Patienten "hinter" den Moulagen und das Verständnis für die historische Dimension der dargestellten Krankheiten.
Ausstellungen sind zwar eindrucksvolle, aber ephemere Publikationsformen. In Antwort auf dieses Vergänglichkeitsproblem ist der vorliegende Begleitband erschienen, der von Ude-Koeller zusammen mit dem Dermatologen Thomas Fuchs und dem Museumsleiter Ernst Böhme herausgegeben wurde. Der rund 90 Seiten umfassende Band besteht aus dem Vorwort von Ude-Koeller, vier unterschiedlich umfangreichen Aufsätzen und einem abschließenden Bildteil mit einer Auswahl von 37 der in der Ausstellung präsentierten Moulagen.
Der Medizinhistoriker Thomas Schnalke berichtet "Aus der Geschichte der medizinischen Moulagenkunst" und schlägt dabei einen thematischen Bogen "Von der normierten Anatomie zum historischen Patienten". Nach einem knappen Überblick über die Entwicklung der Wachsbildnerei seit der Antike wendet er sich der "Anatomia plastica" des 18. Jahrhunderts zu. Diese anatomische Wachskunst richtete den Blick "unter die Haut" (7), um eine normierte, entindividualisierte Anatomie offenzulegen. Das Ziel der Moulage hingegen war es, individuelle, krankheitsbedingte Körperveränderungen wiederzugeben. Ihre Entwicklung korrespondiert daher mit der Etablierung der wissenschaftlichen Pathologie zu Beginn des 19. Jahrhunderts und der sich anschließenden Ausdifferenzierung der klinischen Disziplinen. Dabei stand, wie Schnalke abschließend erläutert, die Moulage von Anfang an in Konkurrenz zu den zweidimensionalen Abbildungsmedien der medizinischen Illustration und der - sich schließlich durchsetzenden - Fotografie. Verdrängt aus der Lehre, haben Moulagen inzwischen jedoch eine "beträchtliche medizin- und kulturgeschichtliche Bedeutung erlangt" (18).
Es folgen zwei kürzere Beiträge aus der Feder der Göttinger Dermatologen Thomas Fuchs und Johannes Geier, welche die Göttinger Moulagensammlung (Fuchs) beziehungsweise die Geschichte der Universitäts-Hautklinik Göttingen (Geier) behandeln. Aus diesen Beiträgen wird deutlich, dass die historische Erschließung wissenschaftlicher Sammlungen ein interdisziplinäres Vorgehen erfordert, das immer die jeweiligen Fachwissenschaftler mit einbeziehen muss. Sie zeigen aber auch, dass Sammlungen wichtige Impulse für die Beschäftigung mit der regionalen Wissenschaftsgeschichte geben können.
Der letzte Textbeitrag stammt von Susanne Ude-Koeller. Er ist mit einer Frage überschrieben - "Mit heiler Haut davon kommen?" - die pars pro toto für die vielen Fragen steht, die sich der Autorin bei ihrer Beschäftigung mit den Göttinger Moulagen aufgedrängt haben: die Frage nach der Bedeutung der Haut als "Vermittlerin zwischen innen und außen" und nach den Spuren der Hautsymbolik in unserer Sprache; die Frage nach der Befindlichkeit des Betrachters vor den Moulagen und nach dem weiteren Schicksal der Kranken, von denen diese einst abgenommen wurden; die Frage nach der sozialen Stigmatisierung durch entstellende Hautveränderungen und nach der funktionellen Beeinträchtigung durch deformierte Hände; die Frage nach der Wahrnehmung der Therapie durch die Kranken und der Wahrnehmung der Kranken durch die Therapeuten; und schließlich die Frage, inwieweit Hautkranke auch heute noch mit Ausgrenzungserfahrungen konfrontiert werden.
Moulagen zeigen nicht nur Haut, sie gehen auch unter die Haut - das wird beim Durchblättern des abschließenden Bildteiles deutlich. Auch wenn die Moulagen hier zwangsläufig ihrer dritten Dimension (und damit ihrer eigentlichen Stärke) beraubt sind, vermitteln die farbigen Abbildungen doch einen lebhaften Eindruck von der Aura der Originale.
Der Begleitband zur Ausstellung "Wachs - Bild - Körper" bietet einen sachkundig präsentierten und reich illustrierten Einblick in das Themenfeld der medizinischen Moulagen. Durch die umfangreichen bibliographischen Angaben zu den Beiträgen von Schnalke und Ude-Koeller ermöglicht der Band zudem den Einstieg in weitergehende Forschungen zum Thema. Und dies umso leichter, als er als Download auf dem Verlagsserver zur Verfügung steht http://univerlag.uni-goettingen.de.Es wäre zu wünschen, dass Ausstellung und Begleitband dazu beitragen, die Göttinger Moulagensammlung der Öffentlichkeit dauerhaft zugänglich zu machen und auch anderen Orts für die Bedeutung der in Vergessenheit geratenen Sammlungen zu sensibilisieren.
Anmerkung:
[1] Schnalke, Thomas: Der Patient dahinter. Gedanken zum Umgang mit Moulagen im medizinhistorischen Museum. In: Jahrbuch der medizinhistorischen Sammlung der RUB (= Medizin im Museum, 1), Bochum 1993, 69-71.
Marion Maria Ruisinger