Rezension über:

Martina Giese (Hg.): Die Annales Quedlinburgenses (= Monumenta Germaniae Historica. Scriptores Rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi; LXXII), Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2004, 680 S., ISBN 978-3-7752-5472-4, EUR 60,00
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Rezension von:
Ludger Körntgen
Facheinheit Geschichte, Universität Bayreuth
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Dendorfer
Empfohlene Zitierweise:
Ludger Körntgen: Rezension von: Martina Giese (Hg.): Die Annales Quedlinburgenses, Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2004, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 3 [15.03.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/03/8389.html


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Martina Giese (Hg.): Die Annales Quedlinburgenses

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Drei Säulen waren es, auf denen die Kirche vor dem Jahr 1000 ruhte: Außer dem Papst in Rom noch zwei Frauen, die Kaiserin Adelheid und die Quedlinburger Äbtissin Mathilde. Die Kaiserin war es auch, die ihrem Gemahl Otto dem Großen die Herrschaft über Italien mit in die Ehe gebracht und damit eine jahrhundertelange Kontinuität des mittelalterlichen Reiches begründet hatte. Solche für heutige Leser wahrlich erstaunlichen Neuigkeiten bieten uns die sogenannten Quedlinburger Annalen, eine Quelle, die durchaus nicht aus einem Zirkel uninformierter Sonderlinge stammt, sondern aus einem Zentrum ottonischer Kaiserherrschaft, dem Frauenkonvent Quedlinburg, und damit letztlich aus dem persönlichen Umfeld der Kaiser und anderer wichtiger Entscheidungsträger. Auch wenn sichere Zeugnisse dafür fehlen, können wir entgegen selbstverständlichen Annahmen der älteren Forschung voraussetzen, dass es nicht irgendein Kleriker mit Verbindung zum Konvent, sondern eine Quedlinburger Frau war, die wohl auf Anregung und vielleicht auch unter Anleitung ihrer Äbtissin, der Kaisertochter Adelheid, seit dem Jahr 1008 aus älteren Vorlagen und eigener Kenntnis der aktuellen Ereignisse ein Werk schuf, das annalistische Notizen der Jahresereignisse mit dem chronistischen Interesse am umfassenden Zusammenhang der Weltgeschichte von den biblischen Anfängen bis zur aktuellen Gegenwart verband.

In manchen pointierten, politisch eigenwilligen und "verfassungsgeschichtlich" nur mit Vorbehalt auszuwertenden Urteilen der Quelle spricht sich also wohl das Selbstbewusstsein der weiblichen Mitglieder des Kaiserhauses und der von diesem begründeten geistlichen Frauengemeinschaften Sachsens aus. Andere Nachrichten bieten einen außergewöhnlichen Einblick in eher säkulare, außerhalb der aus christlich-spätantiker Bildung gespeisten Schriftkultur vermittelte Vorstellungen und Interessen einer sächsischen Adelsgesellschaft, an der auch die dem religiösen Gemeinschaftsleben verpflichteten Frauen Anteil nahmen. Denn in die chronologische Darstellung sind sagenhafte Berichte über den Gotenkönig Ermanarich, Theoderich den Großen und den Hunnenkönig Attila sowie ausführlichere sächsische Helden- und Herkunftserzählungen eingefügt. Weil es sich dabei zumeist um das jeweils älteste schriftliche Zeugnis für die prominenten Sagenstoffe handelt, die erst später in den Volkssprachen niedergeschrieben wurden, hat sich zumindest die Germanistik in jüngerer Zeit intensiver damit beschäftigt. Das Interesse der historischen Forschung haben vor allem die zeitgeschichtlichen Einträge der Annalen als Zeugnisse herrschernaher Wahrnehmungen und Wertungen gefunden, die zugleich von eigenen Interessen einer herausragenden religiösen Gemeinschaft geprägt waren.

Nicht nur diese aktuellen Forschungsinteressen rechtfertigen es, dass die zuletzt im Jahr 1839 im dritten Scriptores-Band der Monumenta Germaniae Historica edierte Quelle jetzt in einer voluminösen Einzelausgabe erneut präsentiert wird. Es sind auch nicht neue Überlieferungsfunde, die eine solche Ausgabe sinnvoll gemacht hätten: es bleibt vielmehr bei einer frühneuzeitlichen Abschrift einer nicht mehr erhaltenen mittelalterlichen Vorlage, die schon große Textlücken aufgewiesen haben muss. Trotzdem hat sich die Grundlage für die Beurteilung des Textes seit der letzten Edition entscheidend verbessert, denn die Quedlinburger Annalen sind vielfach mit dem Ensemble früh- und hochmittelalterlicher (sächsischer) Historiografie verbunden, das in den vergangenen anderthalb Jahrhunderten intensiv erforscht worden ist, in jüngster Zeit vor allem durch die Studien zum sogenannten Annalista Saxo von Klaus Nass. [1] Diese Forschungen erneut zu sichten und den Ort der Quedlinburger Annalen zwischen bekannten oder nur noch zu rekonstruierenden Vorlagen wie den vielfach rezipierten Hersfelder Annalen auf der einen und späteren Ableitungen wie dem erwähnten sächsischen Annalisten, den Magdeburger Annalen oder dem Chronicon Wirziburgense auf der anderen Seite präzise zu bestimmen, war eine wesentliche Aufgabe, die von der Editorin mit Bravour gemeistert worden ist. Ihre Ergebnisse betreffen nicht nur die Quedlinburger Annalen, sondern zeitigen Konsequenzen für vieldiskutierte quellenkritische Fragen etwa zu den verlorenen Hersfelder und Hildesheimer Annalen oder auch zur Halberstädter Bischofschronik, deren Abhängigkeit von Thietmars Chronik die Verfasserin in Auseinandersetzung mit einem posthum erschienenen Beitrag Helmut Beumanns überzeugend bestätigen kann. Nicht nur in dieser Hinsicht lässt sich das Werk auch als Einführung in den aktuellen Forschungsstand zur hochmittelalterlichen Historiografie Sachsens nützen.

Eine besondere Herausforderung für eine Edition bildeten die großen Textlücken der einzigen Handschrift bzw. ihrer Vorlage; vor allem mit den Jahren 961-983 sind zentrale Ereignisse der Zeit Ottos I. und Ottos II. betroffen, deren Kommentierung durch die Quedlinburger Annalistin die Forschung nur allzu gerne kennen würde. Die gemeinsame Publikation von Edition und weit über den Anspruch einer Einleitung hinausgehenden Studien hat es möglich gemacht, eine minutiöse Materialsammlung aufzunehmen, die auf der Grundlage der Vorlagen bzw. der aus gleichen verlorenen Vorlagen schöpfenden Schwesterquellen und der Ableitungen der Quedlinburger Annalen die Grundlagen für eine Rekonstruktion der beträchtlichen Textlücken bietet. Im Textzusammenhang werden zu Recht nur die Lücken markiert, denn der verlorene Text lässt sich jeweils nur mit ganz unterschiedlichem Grad an Sicherheit rekonstruieren.

Quellenkritische und sachbezogene Einzelanalysen und Exkurse, etwa zum Forschungsstand in Bezug auf die erwähnten Sagenstoffe, entlasten den Kommentar der Edition und ermöglichen zugleich eine weiterführende Beschäftigung mit den zahlreichen von der Lektüre der Quelle angeregten Fragen. Eine detaillierte Darstellung von Aufbau und Inhalt am Anfang des Bandes bietet schnelle Orientierung und mag zugleich als Ersatz für eine Übersetzung dienen. Nicht nur den Spezialisten für ottonische Geschichte und Quellenkritik sind damit alle Möglichkeiten eröffnet, um eine der interessantesten Quellen der Zeit unter ganz verschiedenen Aspekten kritisch auszuwerten. Die umfassende Erarbeitung und Erschließung sowie die sorgfältige Präsentation des Textes in der neuen Edition lassen allenfalls einen Wunsch offen: ein vollständiges Exemplar der Quelle möglichst aus der Zeit der abschließenden Niederschrift aufzufinden. Damit ist aber nicht zu rechnen, denn schon die aus den Ableitungen erschließbare hochmittelalterliche Rezeption war weitgehend auf das sächsische Umfeld des Konventes beschränkt, so dass sich nur wenige verlorene Handschriften postulieren lassen. Nicht nur deshalb dürfte der Neuedition eine noch längere Benützung beschieden sein als der zuvor maßgeblichen aus dem Jahr 1839.


Anmerkung:

[1] Klaus Nass: Die Reichschronik des Annalista Saxo und die sächsische Geschichtsschreibung im 12. Jahrhundert (=MGH Schriften 41), Hannover 1996.

Ludger Körntgen