Martina Giese: Die Textfassungen der Lebensbeschreibung Bischof Bernwards von Hildesheim (= Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte; Bd. 40), Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2006, XXVIII + 137 S., ISBN 978-3-7752-5700-8, EUR 20,00
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Von einer Spezialistin für andere Spezialisten geschrieben, stellt dieses Bändchen alles andere als leichten Lesestoff dar. Über weite Strecken aus kaum anderem als Handschriftenbeschreibungen bestehend, hat es einen eigentlich eher abschreckenden als einladenden Charakter. Und dennoch handelt es sich um einen wichtigen und auch an dieser Stelle zu würdigenden Beitrag zu einer merkwürdig gewordenen Forschungssituation, die auf dem Wege ist, in einer schwer auflöslichen Blockade eines wichtigen Gegenstandes zu enden. Worum geht es?
Bischof Bernward von Hildesheim (993-1022) ist eine der beeindruckendsten Figuren unter den geistlichen Reichsfürsten der spätottonischen Zeit gewesen. Aus sächsischem Hochadel stammend, verbrachte er seine frühen Jahre in der Hofkapelle schon Ottos II., dann vor allem aber Ottos III., als dessen Erzieher er wirkte. Von diesem Kaiser wurde er auch in das Amt des Hildesheimer Bischofs befördert und stand an seiner Seite bis zu Ottos III. Tod in Italien 1002, danach ebenso unerschütterlich auf der Seite Heinrichs II. Im Inneren des Bistums war Bernward für seine energischen Bemühungen um den Ausbau der Bischofsstadt Hildesheim ebenso bekannt wie für das Bestreben um Grenzsicherung durch Burgenbau, um Gründungen von Klöstern oder um die Münzprägung. Im so genannten Gandersheimer Streit um die Diözesanzugehörigkeit dieses bedeutenden Damenstifts stand er gegen den Mainzer Erzbischof. Als Förderer der Künste, besonders der Goldschmiedekunst und der Metallgüsse, hat Bernward frühzeitig die Aufmerksamkeit der Kunstgeschichte auf sich gezogen. In einer groß angelegten Ausstellung zum Thema "Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen" wurde die Persönlichkeit 1993 in Hildesheim eindringlich gewürdigt.
1192 wurde der Bischof heilig gesprochen. In diesem Zusammenhang wurde eine Lebensbeschreibung in Rom vorgelegt, die angeblich noch zu Lebzeiten des Bischofs begonnen worden und für die Zwecke der Heiligsprechung umgearbeitet worden sein soll. Diese Lebensbeschreibung liegt in einer - allgemein als unzureichend betrachteten - Edition des Jahres 1841 in den Folianten der Scriptores-Serie der Monumenta Germaniae Historica vor. Unzureichend ist diese Edition vor allem deswegen, weil sie - wie Giese sorgsam herausarbeitet - auf einer unzureichenden, ja irreführenden handschriftlichen Grundlage beruht (99: "Sackgasse der Überlieferung").
Nun ist diese Erkenntnis nicht neu. Seit langer Zeit hat Hans Jakob Schuffels an den Hildesheimer Geschichtsquellen, insbesondere an der Lebensbeschreibung Bernwards, gearbeitet und verspricht seit fast vierzig Jahren eine Neuedition dieser für die Reichs- und Bistumsgeschichte gleichermaßen grundlegenden Quelle. Erschienen ist, von mehreren kleineren Aufsätzen und Beiträgen zum Ausstellungskatalog des Jahres 1993 abgesehen, nichts. Mit dem Erscheinen der versprochenen Neuedition ist auch kaum mehr zu rechnen. Und damit wird die Angelegenheit unerfreulich, denn eine wirklich wichtige und für die Erforschung der spätottonischen Geschichte zentrale Geschichtsquelle wird bis auf Weiteres in einer Edition benutzt werden müssen, deren Unzulänglichkeit allgemein bekannt ist. Wer denn sollte sich, von dem ständigen Risiko bedroht, wider alles Erwarten könne dann doch noch die seit Menschengedenken versprochene Edition erscheinen, an eine solche Neuedition setzen?
Dies ist der Ort, an den die Arbeit von Frau Giese gehört, und auch der Ort, die Verdienste dieses scheinbar unspektakulären Bandes zu würdigen. Da eine Neuedition einstweilen riskant sein könnte, verlegt sich die Verfasserin darauf, alle entscheidenden Vorarbeiten für dieses Unternehmen zu liefern. Sie beschreibt die Entstehung des Werkes und seine verschiedenen Textfassungen, ausgehend von jener im Umfang umstrittenen, aber, wie sich zeigt, durchaus plausibel zu rekonstruierenden Urfassung der Vita Bernwardi über mehrere Zwischenstufen des 11. und 12. Jahrhunderts zunächst bis zur 1192 in Rom zur Kanonisation vorgelegten Überarbeitung. Teils daneben, vor allem aber danach entstanden bis in das 14. Jahrhundert hinein weitere Versionen der Lebensbeschreibung, zuletzt eine legendarische Textfassung, die zahlenmäßig häufig überliefert ist. Giese kommt auf insgesamt (mindestens) 11 verschiedene Redaktionen, die in 28 Handschriften überliefert sind. Auch "die" Vita Bernwardi wird auf diese Weise zum lebenden, immer wieder veränderten, erweiterten und verkürzten Text, den neu zu edieren umso mehr lohnt, weil die Überlieferung wesentlich vielschichtiger ist, als dies bisher erkennbar war. Man sollte, so Gieses berechtigte Forderung, deswegen auch eben nicht mehr von "der" Vita Bernwardi sprechen, sondern deutlich machen, dass es sich um einen mehrfach veränderten Text mit einer komplizierten, in ihren Verästelungen aber durchaus reizvollen Überlieferungsgeschichte handelt.
Die Stärke des Bändchens ist die skrupulöse Untersuchung der handschriftlichen Grundlage dieses Textkomplexes. Giese ist bemerkenswert uneigennützig, wenn sie Handschrift für Handschrift nennt, beschreibt und zueinander in Beziehung setzt, denn der sichtbare Erfolg dieser Tätigkeit wäre normalerweise eben die Neuedition, die zu bearbeiten derzeit unmöglich ist. Nach ihrer gelungenen Neuedition der Quedlinburger Annalen (2004) hat sie ihre Qualitäten mit der vorliegenden Untersuchung einmal mehr unter Beweis gestellt, und man möchte sich wünschen, von ihr bald die nun endgültig fällige Neuedition der Lebensgeschichte Bernwards von Hildesheim zu lesen. Einstweilen wird man die zahlreichen, in die Arbeit eingestreuten Editionsteile benutzen können, die vor allem die 1841 nicht veröffentlichten Versionen der Lebensbeschreibung zu Worte kommen lassen.
Der alleinige Hinderungsgrund für die vollständige Neuedition bleibt ebenjener Hans Jakob Schuffels, der seit fast vier Jahrzehnten von einem Projekt nicht lassen mag, das zu Ende zu bringen ihm unmöglich zu sein scheint.
Thomas Vogtherr