Helga Schnabel-Schüle: Die Reformation 1495-1555. Politik mit Theologie und Religion, Stuttgart: Reclam 2006, 313 S., ISBN 978-3-15-017048-9, EUR 7,00
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Es handelt sich um eine Darstellung der deutschen Reformationsgeschichte in chronologischer, an der Abfolge der Reichstage orientierter Reihung von eindeutig ereignisgeschichtlichem Zuschnitt. Der Leser soll - bis in die 1530er Jahre hinein sehr ausführlich, danach ziemlich kursorisch - mit Daten und Fakten vertraut gemacht werden. Weil das Büchlein vor allem an den Wurzeln und Anfangsgründen der Reformation interessiert ist, trägt es das Jahr des Wormser Reformreichstags, 1495, zu Recht im Titel.
Rund ein Fünftel des Texts ist den politischen und kirchlichen "Voraussetzungen" gewidmet, im Rahmen einer Analyse spätmittelalterlicher Kirchlichkeit wird auch das sonst in seiner Bedeutung für die Reformation gern übersehene Patronatsrecht gewürdigt. Wo die Kirche Schwächen zeigt, machen sich die weltlichen Obrigkeiten mit ihren Abhilfeversuchen stark, die Autorin spricht schon fürs späte Mittelalter von "landesherrlichem Kirchenregiment". Es folgen einige Schlaglichter auf die gleichzeitig exaltierten und verdinglichten Frömmigkeitspraktiken um 1500. Das alles wird sehr kundig erzählt, man merkt, dass die Autorin die Nahtstelle zwischen "Mittelalter" und "Neuzeit" nicht zum ersten Mal inspiziert.
Der Hauptteil des Handbuchs bietet mitteleuropäische Reformationsgeschichte mit einem deutlichen Schwerpunkt auf den ersten beiden Jahrzehnten. Auf einen Überblick über die Ausgestaltung der Reformationsjubiläen seit 1617 folgen kurze Lebensbilder prominenter, vor allem lutherischer Theologen sowie knappe Lebensskizzen einiger wichtiger, insbesondere lutherischer Reichsfürsten. Hier wird der Stoff so arrangiert, dass materielle, machtpolitische Motive ins Auge springen, die Autorin möchte zeigen, "wie die Religionsfrage politisch instrumentalisiert wurde" und dass stets aufs Neue "handfeste Interessen" (229) auszumachen sind. Insofern bezieht sie, scheinbar Lebensläufe aneinanderreihend, Position.
Forschungsdiskussionen ließen sich im vorgegebenen Rahmen schwer führen, es fehlen Fußnoten. Doch nimmt die Autorin wiederholt recht deutlich Stellung: So akzentuiert sie die "Interessen" - ein häufig begegnender Terminus - der damaligen Eliten mehr als die "sogenannte Volksbewegung", wie sie einmal bezeichnender Weise formuliert (128), betont sie die "ideologische Passfähigkeit" (262) der reformatorischen Zentralwerte zum Wunsch der Obrigkeiten, den staatlichen Zugriff zu intensivieren, mehr als etwaige Affinitäten zu bäuerlichen Mündigkeitsvorstellungen. Die für protestantische Selbstvergewisserung generationenübergreifend so gewichtige Auffassung, dass die deutsche Reformation der Freiheit Breschen geschlagen habe, scheint die Autorin zu ärgern, auch wenn sie sich griffiger (damit zitierbarer) Gegenthesen enthält.
Explizit macht sie ihren Ärger darüber, dass die anderen Reformationsgeschichten Luther einen so hohen Stellenwert einräumten und "dass die Reformation als Gegenstand der Erinnerung vorrangig als Luthers Sache betrachtet wurde, nicht als ein hochkomplexes, in langer geschichtlicher Entwicklung vorbereitetes, nur multikausal zu erklärendes Ereignis" (267). Da ist es nur konsequent, dass Schnabel-Schüles Hauptteil just 1517 einsetzt, der sonst gern vorgeschaltete Lebenslauf Luthers mit den bekannten Stationen wird in demonstrativer Kürze nachgereicht. Andererseits - und auch wenn die Autorin der Ansicht ist, es sei "unerheblich" (70), ob Luther die Thesen denn nun angeschlagen habe - ist natürlich das Datum "1517" nicht minder als "1483" Luthers Biografie eingeschrieben. Überhaupt muss der Leser gelegentlich schmunzeln, wenn er sieht, wie sich die Autorin immer wieder in jenen Reformator, dessen Bedeutung sie doch relativieren möchte, verbeißt. Das zieht sich durch den ganzen Band, gern argumentiert Schnabel-Schüle mit Melanchthon, gelegentlich auch mit Johannes Eck gegen Luther, den sie einleitend als "wenig feinfühligen, ungehobelten Menschen"(14) vorstellt. Im Schlusskapitel wird der Leser unter anderem mit diesen Fragen dazu animiert, nach dem Zuklappen der Buchdeckel weiterzudenken: "Hat Luther sich nicht stets mit seiner persönlich gefärbten Theologie selbst im Weg gestanden? [...] Ist dieses 'Hier stehe ich und kann nicht anders' der lutherischen Haltung [...] nicht eine schwere Hypothek für die Moderne?" (278). Es ist eben gar nicht so leicht, deutsche Reformationsgeschichte nicht auf Luther hin zu zentrieren. Wenn ich die Autorin recht verstanden habe, stört sie ein 'zu viel Luther' auch oder vor allem deshalb, weil sie es als Indikator für eine unselige "Theologisierung der Reformationsgeschichtsschreibung in Deutschland" sieht, sie mahnt deren "konsequente Säkularisierung" (13) an und moniert bei den Kollegen einen "Schulterschluss mit den Theologen" (277). Ob der im beginnenden dritten Jahrtausend wirklich so eng ist? Und warum ist die neuerdings überall sonst gebieterisch eingeforderte "Interdisziplinarität" ausgerechnet hier des Teufels?
Aber die meisten Leser des Büchleins werden solche Fragen gar nicht interessieren. Sie werden die zuverlässige ausführliche Erstinformation suchen, die Hinführung zu Daten und Fakten. Ist das Handbuch hierfür geeignet? Nicht mehr dem Ende des vom Titel anvisierten Zeitraums zu. Der Text versickert gleichsam in der späten Reformationszeit. Ein Beispiel hierfür: Die politischen Folgen der Schmalkaldischen Siege Karls werden praktisch nicht gewürdigt - zwölf Zeilen fürs Interim, kein Wort für Karls verfassungspolitische Ziele (Projekt des "Kaiserlichen Bundes") und deren Scheitern. Weil dem so ist und weil auch der sich zuspitzende Streit um die "spanische Sukzession" nicht erwähnt wird, kann der Leser wiederum nicht verstehen, warum sich so viel Unmut gegen Karl aufstaut, warum das Reich dem alternden Kaiser zu entgleiten beginnt. Deshalb wiederum bleibt das Desaster des Fürstenkriegs unverständlich - der ist der Autorin denn auch nur einen Halbsatz wert (Passauer Vertrag: zwei Sätze). Wiewohl sie doch eine dezidiert "politische" Reformationsgeschichte bieten will, war die Leipziger Disputation mehr Druckerschwärze wert als die sieben aufreibenden, gewalttätigen, spannenden Jahre vor dem Religionsfrieden.
Bis in die 1530er Jahre hinein ist das Handbuch in vielen Hinsichten vorbildlich. Es setzt keine Vorkenntnisse voraus, weil es auf Fachchinesisch verzichtet und alles geduldig erklärt. Eine Handvoll Petitessen sind mir störend aufgefallen (und ließen sich problemlos in einer zweiten Auflage beheben): Auf Seite 138 taucht unvermutet ein "Täuferreich" auf, das der Leser noch nicht kennt, es müsste auf Seite 188 verwiesen werden. Der Nürnberger Anstand war ein Provisorium - Waffenstillstand, kein Frieden; der Leser gewinnt meines Erachtens den falschen Eindruck, hier habe man im Grunde schon zu einem Religionsfrieden gefunden. Dass 1519 die Fugger die Wahl entschieden hätten, entspricht einem populären Vorurteil, aber nicht dem Befund in den kurfürstlichen Akten. Die "Protestanten" erregten sich 1529 nicht nur über die Proposition, sondern vor allem über die Stellungnahme des Großen (interkurialen) Ausschusses dazu. Das sind einige wenige Kleinigkeiten, inmitten einer Fülle ausgezeichnet und geduldig erklärter Fakten fallen sie nicht ins Gewicht. Für die vier Jahrzehnte nach dem Wormser Reformreichstag von 1495 darf man unter den ausführlichen Handbuchdarstellungen diese neue neben der exzellenten, bislang kaum gealterten aus der Feder Horst Rabes als derzeit erste Wahl bezeichnen.
Axel Gotthard