Hans-Jürgen Bömelburg / Andreas Gestrich / Helga Schnabel-Schüle (Hgg.): Die Teilungen Polen-Litauens. Inklusions- und Exklusionsmechanismen - Traditionsbildung - Vergleichsebenen, Osnabrück: fibre Verlag 2013, 416 S., ISBN 978-3-938400-64-7, EUR 36,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Der vorliegende Band fokussiert ein Thema, das trotz und gerade wegen gelegentlicher Marginalisierungen zentral für das polnisch-deutsche Verhältnis war und ist. In den national(geschichtlich)en Diskursen stark emotionalisiert, ist es jedenfalls paradigmatisch für eine aktuell verstärkt geforderte und beanspruchte transnationale Herangehensweise.
Ein derartiger Zugang wird in diesem Fall, dem das 2004-2008 von den Herausgeber/innen angeleitete Forschungsprojekt "Die Teilungen Polens. Teilungserfahrung und Traditionsbildung" zu Grunde liegt, durch die Kooperation deutscher, litauischer, ukrainischer und weißrussischer junger Wissenschaftler/innen ermöglicht. Das Konzept des Bandes bietet schon im Untertitel entsprechendes methodisches Potenzial an: Vergleiche jenseits der nationalen Geschichtsschreibung, eine überregionale, gesamteuropäische Perspektive mit unmissverständlicher Kritik an der lange stark (ab)wertenden deutschen Perspektive sowie eine konzeptionelle Ausrichtung hin zu drei Perspektiven sind intendiert: eine strukturgeschichtliche Sicht auf die Teilungen als Modell europäischer Außenpolitik, eine auf die innenpolitischen Ängste vor den Teilungsmächten verbundene Sichtweise und schließlich die Ambivalenz der Teilungen zwischen Untergang einer Rechtsordnung einerseits und Zivilisierungsmission andererseits.
Ausgestattet mit den notwendigen Sprachkompetenzen führt Markus Krzoska ausführlich und umfassend in die 1795-2011 entstandene Historiografie zu den Teilungen ein und zeigt deren Relevanz in mindestens sieben geschichtswissenschaftlichen Kulturen. Matthias Barelkowski widmet sich spezieller den Teilungen in der deutschen Historiografie des 19. Jahrhunderts, konkret bei Richard Roepell und Jakob Caro. Dominik Collet verflicht das Thema gleichermaßen innovativ wie schlüssig mit Klimaeinflüssen und Hungerimplikationen. Hans-Jürgen Bömelburg behandelt die Herrschaftspraxis in den drei Teilgebieten der Ersten Teilung bis zur Schaffung des Herzogtums Warschau im Zeitraum 1772-1806/07 und zeigt, dass der russische Teil die größten Freiräume für polnisches Fortleben bot. Andriy Portnov widmet sich 1772 bis 1831 entstandenen ukrainischen Selbstzeugnissen und zeigt, dass das Russländische Reich - im Gegensatz zur habsburgischen und preußischen Monarchie - aus den polnischen Gebieten eine Zivilisierungsmission erwartete. Viktor Gajdučik und Barelkowski untersuchen die weißrussischen Gouvernements, die bereits 1772 zum Russländischen Reich kamen, an den folgenden polnisch-litauischen Reformen nicht partizipierten und an den Erhebungen von 1830/31 nur schwach beteiligt waren. Mit den neuen Rechtsverhältnissen nach 1772 beschäftigen sich Daniela Druschel für die habsburgischen Gebiete Galizien und Westgalizien sowie Roland Struwe für Südpreußen und Neuostpreußen; in beiden Fällen ist im Vergleich von 1772 zu 1795 eine deutliche Reduktion des Implementierungstempos feststellbar. Das Militär als Integrationsinstrument in der preußischen und habsburgischen Monarchie untersucht Bernhard Schmitt mit dem Ergebnis, dass situative Momente und Sicherheitserwägungen über Ein- und Ausschluss des Adels ins Militär entschieden. Jörg Ganzenmüller schließlich untersucht die Integration des polnischen in den russischen Adel und konstatiert einen Umschwung um 1825/30: War davor Loyalität das einzige Inklusionskriterium, zielte die Politik danach auf das Aufgehen des polnischen im russischen Adel (dvorjanstvo).
Der Bemühung der Autor/innen um ausgleichende Perspektiven entspricht ein durchwegs unaufgeregter Tonfall: Das Ende Polen-Litauens wird als Teil des Endes des Ancien Régime gesehen und darüber hinaus in seiner langfristigen Wirkung auf die Erinnerungen der Umbrüche des 19. und 20. Jahrhunderts bezogen. Der Anteil des polnisch-litauischen Elementes am memorialen Erbe in Litauen, Ukraine und Weißrussland wird ausgewogen reflektiert. Durchwegs fundiert, reflektiert und differenziert bestätigt sich in denjenigen Beiträgen, die sich tatsächlich auf den Vergleich aller drei Teilungsgebiete einlassen, dann doch wiederum die Sonderrolle Russlands. Zum Teil wird in den Beiträgen archivalisches und daher bislang unbekanntes Material verwendet, das aus der Ukraine, Weißrussland, aber auch aus Polen, Deutschland, Österreich und Russland stammt. Der Band ist mit einer Karte sowie einem Personen- und einem die mehrsprachigen Konkordanzen umfassend berücksichtigenden Ortsnamen-Register für einen Sammelband ungewöhnlich gut ausgestattet.
Eine Frage, die sich aber doch aufdrängt, lautet schlicht und einfach: Warum wurde in der transnationalen Kooperation vor allem keine polnische, aber auch keine russische oder österreichische Beteiligung vorgesehen? Rein formal-organisatorisch ist die Anordnung der Beiträge zwar schlüssig, mutet aber doch etwas willkürlich an und ist somit nicht ganz klar; vielleicht hätte man hier mit Sektoren (Historiografiegeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Rechtsgeschichte, Sozialgeschichte unter besonderer Berücksichtigung des Militärs) arbeiten können. Angeboten hätte sich angesichts des gesamtkonzeptuellen Fokus auf den Vergleich jedenfalls eine Unterscheidung in Beiträge, die alle drei Teile vergleichen, und solche, die darauf verzichten.
Jedenfalls liegt aber mit dem Band ein gutes und anregendes Beispiel für eine Herangehensweise an ein Thema vor, dessen gesamteuropäische Relevanz unmissverständlich herausgearbeitet und dessen gesamteuropäische (Neu-)Perspektivierung entsprechend klar gewährleistet wird.
Christoph Augustynowicz