Peter Claus Hartmann / Ludolf Pelizaeus (Hgg.): Forschungen zu Kurmainz und dem Reichserzkanzler, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005, 197 S., ISBN 978-3-631-53574-5, EUR 39,00
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Peter Claus Hartmann (Hg.): Religion und Kultur im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts. Unter Mitarbeit von Annette Reese, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004
Der Sammelband dokumentiert die Vorträge, die bei einem Kolloquium des Mainzer Arbeitskreises "Reichserzkanzler" im November 2005 gehalten wurden. Anders als die bislang von diesem interdisziplinären Arbeitskreis vorgelegten Tagungsbände hat er kein eigentliches Thema, der Erzkanzler taucht vor allem in anderen Rollen auf: als Universitätskanzler, einige Male als Erzbischof, manchmal muss auch der regionale Bezug zum Mainzer Umland hinreichen. In einem Überblick über das Wirken der Ungarischen Königlichen Kanzlei beziehungsweise, wie sie seit 1690 hieß, der Ungarischen Hofkanzlei vom Hohen Mittelalter bis ins frühe 18. Jahrhundert aus der Hand von András Forgó fehlt der Bezug zu mainzischer Reichs- oder Landespolitik überhaupt.
Hingegen verspricht William O'Reilly, der das Wirken des "Primate of all England" vor allem im 16. Jahrhundert skizziert, in der Überschrift seiner Studie vergleichende Blicke auf den Kurmainzer. Tertium comparationis sei die Prominenz als "Nummer zwei" im jeweiligen politischen System, er stellt uns den Primas als "zweiten Mann im Königreich" (72) vor: "Der Erzbischof von Canterbury ist [ ... ] der erste Peer Englands und steht mit Ausnahme des Herrschers und der Königlichen Familie im Rang über allen Personen im Königreich" (77). Tatsächlich durchgeführt wird der Vergleich dann aber nicht, und wer ein wenig mit deutscher Geschichte vertraut ist, stößt vor allem auf grundlegende Unterschiede. Vielleicht weiß O'Reilly nicht, dass sich die herausragende Rolle des Kurmainzers im neuzeitlichen Reichsverband seiner Position im Kurkolleg und als 'Reichstagsdirektor', auch manchen anderen wichtigen politischen Funktionen, am wenigsten aber der Tatsache verdankt, dass er einer von vier Erzbischöfen gewesen ist; den Erzbischof von Canterbury jedenfalls stellt uns der Autor in eben dieser Rolle als prominenten Kleriker vor. Wir stoßen wieder einmal auf die im Zeichen der "Globalisierung" politisch unkorrekte Wahrheit, dass sich eben doch nicht alles gewinnbringend mit gar allem vergleichen lässt. Die Prominenz des "Primate of all England" war offenbar eine der kurmainzischen schwerlich vergleichbare; ich erwähne hier nur noch, dass die Erzbischöfe von Canterbury vom jeweiligen Monarchen ausgewählt und ernannt wurden! Dass das Schicksal auch von Eltville seit 1792 "von Kriegen, Fremdbesatzungen und Ungewissheit geprägt war" (151) und die sich anschließende Säkularisation auch dort zur "Zerstörung von Kulturgut" (164) führte, zeigt uns auf der Basis der älteren heimatkundlichen Literatur Ricarda Helm. In ihrem Aufsatz begegnet uns der Kurmainzer anfangs noch als Landesherr.
In allen wichtigen Rollen lernen wir den Kurmainzer in einem Beitrag von Matthias Schnettger kennen, der "überblicksartig zeigen" möchte, "in welchen Kontexten dieser mit reichsitalienischen Problemen konfrontiert wurde" (53). Weil die italienischen Vasallen die Schlüsselposition des Mainzers im Reichsgefüge kannten, wandten sie sich immer wieder mit Gesuchen und Appellen an ihn. Das hatte selten spektakuläre Folgen, mündete allenfalls, wenn das mainzische Interesse geweckt werden konnte, in kurfürstliche Kollegialschreiben oder "Interzessionalschreiben" des Reichstags an die Hofburg. Aber grundsätzlich sah sich der Kurmainzer doch berufen, auch in Reichsitalien "Angelegenheiten des Reichs zu verwalten", so Schnettger. "Die italienischen Lehensgebiete wurden als - wenngleich peripherer - Teil des Reichs behandelt" (70). Da jüngst viel über den "staatlichen" Charakter des Reichsverbands diskutiert wurde und diejenigen, die nicht von einem "Reichsstaat" sprechen möchten, gern auf die Relevanz der nicht zum politischen System gehörenden 'bloßen' Lehnsgebiete verwiesen, könnte dieser unscheinbare Satz größere Aufmerksamkeit finden.
Mehrere Abhandlungen befassen sich mit der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Ludolf Pelizaeus zeigt, wie die Stadt Erfurt versuchte, die Präsenz schwedischer Truppen für eine Neuausrichtung der theologischen Fakultät an der bikonfessionellen Universität zu nutzen. Das blieb episodal, hatte aber immerhin zur Folge, dass Johann Matthäus Meyfarth nach Erfurt kam und dort blieb. Die Universitätsstatuten von 1634, "an deren Entwurf Meyfarth maßgeblich beteiligt war" (46), stellten die tagesaktuell anmutende Forderung auf, den Professoren ausreichend Zeit zum Bücherschreiben zu belassen. Konrad Amann hat die in Mainz vorliegenden Filme der Faszikel 142 bis 180 (1640-1654) des Bestandes "Reichstagsakten" des "Mainzer Erzkanzlerarchivs" gesichtet, die "gewaltigen Aktenberge" (113) belegen in seinen Augen die herausragende Position des Mainzers im Reichsgefüge, er sei "eine Art Verwaltungs- und Archivchef, ein wichtiger Organisator beim Zusammenhalt des Reichsganzen" (115f.) gewesen. Anja Rieck findet die Frage spannend, welches nach 1630 "die Hauptstadt der Schweden auf deutschem Gebiet" gewesen sei; man lege sich da immer zu eindeutig auf Frankfurt fest, "unbestritten hatte auch Mainz der Kriegsmacht einige Vorteile zu bieten" (130). Andreas Scheidgen analysiert ein Bonifatius-Lied von 1628 auf seine musikalischen, stilistischen, metrischen, konfessionspolitischen und volkspädagogischen Gehalte hin.
Zwei unterschiedlich gewichtige Beiträge führen uns ins 18. Jahrhundert. Dominik Bartoschek untersucht, warum das kurmainzische Projekt, kapitalkräftige Fabrikanten zur Umsiedlung in eine bei Höchst geplante Neustadt zu locken, gescheitert ist. Vielleicht am bemerkenswertesten ist die Bedeutung, die hierfür, noch zur Zeit der Spätaufklärung, die Konfessionspolitik gehabt hat: Der Erzbischof wollte den vor allem anvisierten reformierten Neusiedlern lediglich das "exercitium religionis privatum" zugestehen und glaubte, in der Werbung für das Projekt selbst diese bescheidenen konfessionellen Freiräume nicht herausstreichen zu dürfen. Akten des Kommissariatsarchivs Heiligenstadt hat Christophe Duhamelle in einer eher räsonierenden als resümierenden, jedenfalls anregenden Studie ausgewertet. Vordergründig geht es dem Autor um volkstümlichen Widerstand gegen obrigkeitliche Anordnungen, wie sie im Zeichen aufgeklärter Vernünftigkeit ergingen. Unter das Mikroskop legt er dabei die Argumentationsweisen der allfälligen Bittschriften betroffener Gemeinden. Sie oszillieren zwischen Eigensinn und geschickter Aneignung obrigkeitlicher Argumentationsstrukturen. Wurden mit den behördlichen Sprachmustern auch Denkweisen übernommen, war es gar ein dialektischer Prozess quer zum allzu simplen Muster obrigkeitliche Vernünftigkeit contra bornierter volkstümlicher Aberglaube, und lassen sich von daher Linien zur neuerdings so genannten "Zweiten Konfessionalisierung" im 19. Jahrhundert ziehen? Auch als Beitrag zur selten von der Glaubenspraxis her beleuchteten Debatte, inwiefern vormodernes "State-building" Resultat einer zielgerichteten Anstrengung von Regierungszentralen war, inwiefern es vielmehr dem stets aufs Neue zu erringenden Konsens zwischen Herrschern und Beherrschten erwuchs, kann man die interessante Studie lesen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Tagungsband die thematische Geschlossenheit und qualitative Ausgewogenheit der seither vom Arbeitskreis "Erzkanzler" vorgelegten Aufsatzsammlungen nicht ganz erreicht; eine Reihe der nun vorgelegten Beiträge sind gleichwohl ausgesprochen lesenswert.
Axel Gotthard