Matthias Waechter: Der Mythos des Gaullismus. Heldenkult, Geschichtspolitik und Ideologie 1940-1958 (= Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; Bd. XIV), Göttingen: Wallstein 2006, 508 S., 45 Farbabb., ISBN 978-3-8353-0023-1, EUR 46,00
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Gleichgültig hat er niemanden gelassen. Bis heute sprechen ehemalige Weggefährten mit einer uneingeschränkten Hochachtung und distanzlosen Verehrung von Charles de Gaulle, die ahnen lässt, wie charismatische Herrschaft funktionieren mag. Selbst entschiedene politische Gegner sahen sich vielfach gezwungen, ihm einen gewissen Respekt zu erweisen. Zu monolithisch, zu Furcht einflößend weitsichtig ragte er mit seiner einsamen Entscheidung für den Widerstand im Juni 1940 aus der Masse der stillen, angepassten oder sogar furchtsamen Eliten Frankreichs heraus. Sein Name ziert bis heute Straßen und Plätze in jedem noch so kleinen französischen Dorf. Der Schulterschluss mit Adenauer 1963 ist legendär, der Untergang des Präsidenten in den Wirren des französischen Mai 68 ebenfalls.
Darüber allerdings schweigt sich Matthias Waechter aus. Nicht der Niedergang des greisen Staatsmannes, sondern der Aufstieg des Militärstrategen zur politischen Erlösungsgestalt des modernen Frankreich steht im Mittelpunkt seiner Studie über den "Mythos des Gaullismus" in den Jahren 1940-1958. Das ist eine interessante Fragestellung, zugleich aber erklärungsbedürftig, richtet Waechter seinen Blick eben nicht auf den Höhepunkt der politischen Karriere des Generals, sondern vor allem auf die Jahre zwischen 1946 und 1958, in denen de Gaulle seinen Rückzug aus der Politik angetreten hatte. Was aber lässt sich berichten über die Wirkmächtigkeit eines geschichtspolitischen Mythos, dessen tragender Protagonist schon lange nicht mehr aktiv war? Wie kann der Kult um den Résistance-Helden unter Verzicht auf biografische Erzählstrategien überhaupt beschrieben werden? Und wieso ist es dann doch de Gaulle selbst, der das Titelbild zieren darf - hier bei einer seiner legendären Radioansprachen aus einem Studio der BBC im Jahr 1941 - und den Leser zunächst auf die falsche Fährte setzt?
Soviel sei vorweggenommen: Matthias Waechter ist ein aufregendes Buch geglückt. Getragen von einer deutlich spürbaren Zuneigung für das französische Nachbarland und gestützt auf ein breites Quellenstudium, gelingt ihm die Dechiffrierung eines zentralen Kapitels der französischen politischen Kultur. Seine eigene Sozialisation in der an geschichtspolitischen Mythen so viel ärmeren Bonner Republik kann der Autor nicht verleugnen, doch ist dies die vermutlich notwendige Voraussetzung für das ungläubige Erstaunen, welches die langanhaltende Wirkmacht des Gaullismus beim unbeteiligten Beobachter bis heute auszulösen vermag: Nichts scheint dem bundesrepublikanischen Besucher zunächst fremder als die religionsähnliche De-Gaulle-Verehrung in seinem lothringischen Landhaus in Colombey-les-deux-Eglises.
Methodisch orientiert sich Waechter an den Arbeiten Pierre Noras über die französischen "Erinnerungsorte" [1], ohne sich diesem Konzept dogmatisch verpflichtet zu fühlen, und darüber hinaus an den Studien Henry Roussos über das Vichy-Syndrom [2]: "Das Vichy-Syndrom umreißt die Geschichte kollektiven schlechten Gewissens und verdrängter Schuldgefühle", so seine Begründung; "der Mythos des Gaullismus dagegen handelt von einem kollektiven Stolz" (14). Von alltagssprachlichen wie kulturwissenschaftlichen Definitionsversuchen des Mythosbegriffs grenzt sich Waechter gleichermaßen ab und definiert den Mythos pragmatisch als "gemeinsam erlebte und durch herausragende Individuen geprägte Geschichte", die im Prozess der Mythologisierung aus ihrem unmittelbaren zeitgebundenen Kontext herausgelöst und auf eine überzeitliche Ebene gehoben werde. Eine mythisch erzählte Geschichte appelliere an die Emotionen der Menschen und verdichte sich in sinnlich erfahrbaren Symbolen und Ritualen (18).
Mit dieser Festlegung motiviert Wachter seine zentralen Fragen: Welches sind die gemeinsamen Erlebnisse, auf die der Mythos des Gaullismus sich beruft, welches die überzeitlichen Leitmotive? Wann und wo hat der von ihm analysierte Heldenkult seinen sinnlich erfahrbaren Niederschlag gefunden? Wie funktioniert charismatische Herrschaft unter den Bedingungen republikanisch-demokratischer Gesellschaften?
Seine Untersuchung folgt dabei einem chronologischen Gliederungsprinzip: Im ersten Teil analysiert er die Entstehung des Personenkults in den Kriegsjahren 1940-1944, im zweiten Teil den vorläufigen Höhepunkt der De-Gaulle-Verehrung während der kurzen Regierungszeit des Generals in den Jahren 1944-1946, Teil drei ist seinen politischen Interventionen in den Jahren nach dem Rücktritt bis zur politischen Wiederauferstehung 1958 und der vierte und letzte Abschnitt dem Fortleben des gaullistischen Mythos in der Fünften Republik gewidmet.
Was also war der Gaullismus? Waechter definiert ihn als politische Bewegung, die mit dem Appell des 18. Juni 1940 ihren Anfang und mit der Selbststilisierung des Generals als visionärer Retter Frankreichs in den Kriegsjahren ihren Fortgang nahm. Überzeugend analysiert er Traditionsbildung und visuelle Selbstdarstellung des gaullistischen Widerstandes als Antwort auf das Legitimationsdefizit des "Freien Frankreich". Der Höhepunkt der Heldenverehrung war schon kurz nach der Befreiung Frankreichs überschritten: Mit seinem Anspruch, über den Parteien zu stehen, hatte de Gaulle die Widerstandsbewegungen während des Krieges stabilisiert; unter den Bedingungen parlamentarischer Demokratie konnte er mit dieser Haltung nicht lange bestehen. Weshalb der Gaullismus zwölf Jahre später als Gründungsideologie der Fünften Republik erneut Wirkmacht entfalten konnte, darüber informiert jetzt die herausragende Arbeit von Waechter, die nicht nur Frankreich-Spezialisten empfohlen sei, sondern darüber hinaus jedem, der die politische Kultur des europäischen Partners zu verstehen sucht.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Pierre Nora (Hg.): Les lieux de mémoire, 3 Bde., Paris 1984-1994.
[2] Vgl. Henry Rousso: Le syndrome de Vichy de 1944 à nos jours, 2. Aufl. Paris 1990 (Erstausgabe 1987).
Claudia Moisel