Thorsten Holzhauser: Demokratie, Nation, Belastung. Kollaboration und NS-Belastung als Nachkriegsdiskurs in Frankreich, Österreich und Westdeutschland (= Historische Zeitschrift. Beihefte. Neue Folge; Beiheft 80), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2022, 186 S., ISBN 978-3-11-076328-7, EUR 72,95
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Als begriffliche Klammer dient dem Autor der Studie, die ihren Ausgang in einem Mainzer Forschungsprojekt zu "Regimewechsel und Elitenkontinuität nach 1945" nimmt, die "post-totalitäre Demokratie" beziehungsweise die "Transformationsgesellschaft". Seine vergangenheitspolitische Vergleichsgeschichte organisiert er als Dreischritt: Am Beginn stehen nationale Spezifika hegemonialer Diskurse über Entnazifizierung und Épuration in Frankreich, Österreich und (West-)Deutschland; im zweiten Teil deren Verschränkung mit der (Re-)Formierung demokratischer Strukturen und Praktiken seit 1945; schließlich die Amnestiediskurse.
Während ein deutsch-französischer Vergleich geläufig anmutet, scheint die Einbindung von Österreich zunächst Erklärungsbedarf zu erzeugen. Dass als Folge der frühen Öffnung österreichischer Nachkriegsparteien für politisch Belastete die politische Säuberung wenig Durchschlagskraft entfaltete, ist nicht erst seit der Waldheim-Affäre um die NS-Vergangenheit des Bundespräsidenten Gemeingut: "Schon im Herbst 1945 lagen so viele Nachsichtsgesuche vor, wie es registrierungspflichtige Personen gab" (53). Dass damit vorrangig wahltaktische Erwägungen verbunden waren, ist offensichtlich. Das ist grundsätzlich nicht ganz neu, haben doch Henry Rousso ("Syndrome de Vichy") und Norbert Frei ("Vergangenheitspolitik") Standardwerke dazu vorgelegt. Das erste Nachkriegsjahrzehnt gehört überhaupt zu den besonders intensiv erforschten Perioden der NS-Nachgeschichte in Westdeutschland; für Frankreich ergibt sich ein ähnlicher Befund. Personalpolitische Kontinuitäten und Brüche sind als Thema weitgehend ausgeforscht, die "Behördenforschung", beginnend in den frühen 2000er Jahren mit einer Debatte um das Auswärtige Amt und die Vergangenheit, hat Fragen nach der NS-Belastung vielfältig und umfassend thematisiert. Mit einer neueren Studie von Hanne Leßau schließlich, die zuletzt die britische Besatzungszone in den Blick genommen hat, liegen zudem weitere "Entnazifizierungsgeschichten" vor, die seit Lutz Niethammers "Mitläuferfabrik" zunächst als abschließend untersucht galten.
Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der frühen Bundesrepublik zu historisieren und zu kontextualisieren ist somit ein Anliegen, das gerade nicht am Anfang steht. Dabei konzentriert sich vorliegende Studie auf "ausgesuchte legislative Dokumente und die sie begleitenden parlamentarischen Debatten" (16). Anzumerken bleibt, dass in der Bundesrepublik nicht zuletzt die Bundespräsidenten in ihren Reden einen bedeutsamen Anteil nahmen an der diskursiven "Teilmenge, die für die Aufstellung allgemein verbindlicher Normen zuständig ist" (18). Sie aber, namentlich Theodor Heuss, bleiben in Holzhausers Untersuchung randständig, obgleich die vergleichende Perspektive in seinem Fall von besonderem Erkenntnisinteresse wäre: Hätten für die Wählbarkeit in Westdeutschland nach 1945 ähnlich strenge Regeln gegolten wie in Frankreich, hätte seine Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz 1933 Heuss' Nachkriegskarriere schlicht verhindert.
Wo aber genau die diskursive Trennlinie zwischen der kritischen Reflexion von "demokratietheoretisch strittigen Elementen" (71) der politischen Säuberung und nationalistisch-antidemokratischer beziehungsweise republikgefährdender Apologetik zu verorten wäre, weiß auch Holzhauser nicht immer präzise zu benennen. Und tatsächlich wird es nicht nur im französischen Fall kaum möglich sein, die Grauzonen der Nachkriegsdebatten auszuloten, ohne die langen Linien und Neuordnungen des Belastungsbegriffs in der jüngsten Vergangenheit einzubeziehen: Der zunehmend kritische Blick auf die vormalige Lichtgestalt Mitterand seit den 1990er Jahren und die späten Ermittlungen gegen den vormaligen Polizeipräfekten Papon, der nach dem Krieg bruchlos an eine Karriere im Dienst der Vichy-Regierung anzuknüpfen vermochte, legen davon Zeugnis ab.
Als wesentliches Merkmal des französischen Belastungsdiskurses identifiziert Holzhauser mit guten Gründen eine "binäre Logik" (45), anders gesagt: eine gewisse Stringenz und moralische Intransigenz, die man in Bonn und Wien vergeblich suchte. Während der französische Gesetzgeber mit den Amnestiegesetzen der 1950er Jahre keinen Anspruch auf Wiedereingliederung in den öffentlichen Dienst verband, sollte in der Bundesrepublik das Gesetz "zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen" genau diesen Anspruch gesetzlich verankern (inwieweit sich ein analytischer Mehrwert daraus ergibt, den diskursiven Mainstream, sich wiederholende Argumente oder hegemoniale Deutungsmuster als Netze respektive "Signaturen" zu fassen, wäre zu diskutieren): Wie viel schlichte NS-Apologetik das "demokratiepolitische" (122) Argument im Einzelfall enthalten mochte, vermag auch Holzhauser nicht immer trennscharf zu benennen.
Anzumerken bleibt, dass das Forschungsdesign in der Folge gewissermaßen zwangsläufig erfahrungsgeschichtliche Leerstellen produziert: Hinter den Diskursen und Argumentationszusammenhängen treten die Akteure zurück, hinter dem akademischen Nachdenken über das Demokratieprojekt verblassen die Einsichten in die konkreten Folgen für das Individuum, das in seinem Zusammenschluss Gesellschaft erst konstituiert: Biografische Miniaturen wie die über den österreichischen SPÖ-Abgeordneten Heinrich Hackenberg, der während des Kriegs als Gegner des NS-Regimes ins KZ Buchenwald deportiert worden war, oder den VdU-Nationalratsabgeordneten Helfried Pfeifer, der seine Universitätsprofessur für Staats- und Verwaltungsrecht bei Kriegsende verloren hatte, bleiben die Ausnahme.
Narrative und Praktiken der radikalen Rechten wurden mit dem von Holzhauser beschriebenen Instrumentarium der schrittweisen Inklusion kompromittierter Funktionseliten nicht abschließend "bewältigt"; der Autor selbst weist in seinen zusammenfassenden Überlegungen zu populistischen und extremistischen Parteien beziehungsweise geschichtsrevisionistischen Positionen in der Gegenwart ausdrücklich darauf hin. Geteilt war die Gesellschaft eben nicht vorrangig in Belastete und Unbelastete, vielmehr bildeten die Opfer des NS-Regimes eine eigene Gruppe, die mit zunehmendem zeitlichen Abstand Sichtbarkeit und Anerkennung einforderte.
Und selbstverständlich bleibt der Belastungsbegriff vielfältigen Wandlungen unterworfen; Kontroversen über Straßennamen sind an der Tagesordnung (zuletzt hat die Hohenzollerndebatte über strittige Vermögensfragen gezeigt, dass der Belastungsdiskurs bis in die Gegenwart mit vergangenheitspolitischen Forderungen und wirtschaftlichen Interessen eng verflochten ist). Die Antwort auf die Frage, wer wegen seiner Vergangenheit als diskreditiert galt, war immer auch zeitgebunden, aber eben nicht nur: Verfassungswidrigkeit und politische Gewalt konnten unabhängig von Kontext, Regimewechseln und nationaler Zuverlässigkeit als juristisches Problem gefasst werden. Der Ansatz, Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Belastung für die Täter zu begreifen, kann folglich nicht überzeugen, da es Verfolgte, Regimegegner und Opfer der Diktatur gewesen sind, welche die Last physischer und psychischer Langzeitfolgen zu tragen hatten.
Darüber ausführlich zu sprechen, hätte selbstverständlich ein anderes Buch ergeben. Davon zu schweigen wäre dem Autor jedoch als ein Mangel an Empathie anzukreiden, wenn er nicht selbst darauf hinweisen würde, "dass die individuelle Verantwortung von Personen (und Personengruppen) gegenüber Opfern (und Opfergruppen) in den 1940er und 1950er Jahren nicht der zentrale Gegenstand war, der aus zeitgenössischer Sicht politische Belastung konstituierte. Politische Kompromittierung resultierte weder in Westdeutschland noch in Österreich oder Frankreich in erster Linie aus den Verbrechen, die an jüdischen Menschen, an Sinti oder Roma, an Homosexuellen oder an anderen gesellschaftlichen Minderheiten begangen worden waren. [...] Dass bestimmte Personen als kompromittiert und sanktionswürdig angesehen wurden, war in Frankreich, Österreich und Westdeutschland die Folge eines zugeschriebenen Vergehens gegenüber Staat, Nation und Gesellschaft" (130). Und an anderer Stelle heißt es: "Dass die Auseinandersetzung mit politisch belasteten Personengruppen nach dem Zweiten Weltkrieg ein zentraler Bestandteil demokratischer und nationaler Rekonstruktionsprozesse war, in denen das postdiktatorische Europa demokratische Normen verhandelte und nach neuen Identitäten rang, ist das eine. Dass dabei die Opfer totalitärer Gewalt gerade nicht im Mittelpunkt standen, sondern systematisch marginalisiert wurden, das andere" (152).
Die demokratische Rekonstruktion fand eben - und hier unterscheiden sich trotz der von Holzhauser erhobenen Gemeinsamkeiten im parlamentarischen Nachkriegsdiskurs Deutschland und Frankreich grundlegend - in der Bundesrepublik vorrangig ohne die Expertise vormaliger Emigranten und der Widerständigen statt. In Frankreich dagegen spielten Prozesse der Dekolonisation eine wichtige Rolle, die im vorliegenden Band nur am Rande gestreift werden. Bei aller gebotenen wissenschaftlichen Objektivität bedarf es eines empathisch-ganzheitlichen Blicks, um auch jenen ihre Würde zurückzugeben, die im Prozess der Inklusion und Exklusion marginalisiert wurden. Dass die Entnazifizierung als ein hochgradig vermachteter diskursiver Sachzusammenhang zu bewerten ist: Thorsten Holzhauser hat für diesen Befund einmal mehr vielfältige Belege geliefert.
Claudia Moisel