Dietmar Süß (Hg.): Deutschland im Luftkrieg. Geschichte und Erinnerung (= Bd. 1), München: Oldenbourg 2007, 152 S., ISBN 978-3-486-58084-6, EUR 16,80
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Jörg Arnold / Dietmar Süß / Malte Thießen (Hgg.): Luftkrieg. Erinnerungen in Deutschland und Europa, Göttingen: Wallstein 2009
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Es ist selten, dass auf gedrängtem Raum derart viele spannende Informationen und Thesen vereinigt sind wie in diesem Band. Entgegen manchen in der Öffentlichkeit gern kolportierten Legenden sind der Luftkrieg und die gesellschaftlichen Folgen des Bombardements deutscher Städte keine von der Historiografie gänzlich vergessene Facette des Zweiten Weltkriegs. Allerdings weist die Forschung, nicht zuletzt was die politischen und gesellschaftlichen Folgewirkungen betrifft, noch erhebliche Lücken auf. Der vorliegende Band vereinigt zehn Aufsätze, in denen jüngere Historiker ihre Arbeiten zu unterschiedlichen Aspekten des Luftkriegs resümieren und einige der empfindlichsten Defizite auf sehr lesenswerte Weise beheben.
Höchst aufschlussreich ist bereits ein Zitat, das Jörg Echternkamp im 1930 publizierten "Mythus des 20. Jahrhunderts" von Alfred Rosenberg entdeckt und seinem einführenden Beitrag vorangestellt hat: Künftige Krieg würden, prophezeite der NS-Chefideologe, "stark im Zeichen der Luftflotten stehen" und "die Großstädte" das "Ziel der Gas- und Brisanzbomben" werden. Statt dies nun als Problem zu begreifen und zumindest den Schutz der Zivilbevölkerung zu diskutieren, sehnte Rosenberg Luftkrieg und Massenbombardements geradezu herbei. Im Luftkrieg nämlich, erklärte der "Partei-Philosoph" im für ihn typischen Pathos, werde "wie in früheren Zeiten das ganze Volk teilnehmen am Kampf ums Dasein". Durch die Technik des modernen Krieges würde "das uralte organische Verhältnis zwischen Volk und Krieg wieder hergestellt" (13). Diese Feststellung zeugt davon, dass sich das Regime der integrativen Folgen des totalen Luftkriegs durchaus bewusst war und diese aus einer sozialdarwinistischen Grundhaltung heraus fast emphatisch in ihr Kalkül einbezog.
Ein erster Block mit drei vorzüglichen Aufsätzen bietet einen Überblick über die Verwaltung der Folgen des Luftkriegs: Jörn Brinkhus gibt einen prägnanten Überblick über die Organisationsgeschichte des zivilen Luftschutzes. Er arbeitet sich konzeptionell an Max Webers These der "Wirtschaftsenthobenheit" charismatischer Herrschaft ab (28 f., 32), die sich im "personalistischen, sprunghaften Führungsstil Hitlers" gespiegelt habe (39), und führt darauf die zunehmende organisatorische Fragmentierung des Luftschutzes zurück, die auch durch die vorübergehende Zentralisierung der Kompetenzen bei Goebbels' "Interministeriellem Luftkriegsschädenausschuß" 1943/44 nicht behoben worden sei. Bernhard Gotto wiederum bricht eine Lanze für die Kommunalverwaltungen; jene hätten die Folgen der Bombenangriffe weitgehend in Eigeninitiative und Selbstorganisation "flexibel, unbürokratisch und situationsangepaßt" bewältigt, obgleich zahlreiche Verwaltungsexperten für den Aufbau von Behörden in den besetzten Gebieten und später auch unmittelbar an die Front abgezogen worden seien. Seine Feststellung: "Kommunalverwaltung, Parteidienststellen und Polizeiapparat vernetzten ihre Aktivitäten und gingen die Krisenprävention als arbeitsteiliges Großprojekt an" (47), kann als Gegenthese zu Brinkhus' Positionen verstanden werden. Nicht Zersplitterung und Zerfall, sondern Kompensation der Defizite des polykratisch labilen Herrschaftssystems durch "permanente Feinabstimmung und Koordinationsleistung von unten" (55) hätten den Luftschutz bis ins letzte Kriegsjahr hinein charakterisiert. Es waren, folgt man Gotto, die nach 1945 komplikationslos weiter funktionierenden - von NS-Funktionsträgern durchsetzten - Kommunalverwaltungen inklusive parteinaher Massenverbände wie der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), die dem Hitler-Regime den vorzeitigen Zusammenbruch unter dem Luftbombardement ersparten. Wieder andere Akzente setzt Armin Nolzen in seiner knappen und prägnanten Darstellung der NSV; er behauptet ein weitgehendes Versagen dieser NS-Organisation unter dem massiven Luftbombardement ab 1943, das auf die Stimmung gedrückt und dem Regime allmählich die Legitimationsgrundlage entzogen habe. "Ohne den alliierten Luftkrieg hätte das NS-Regime noch Jahre überdauert, weil es sich im Innern sonst ungebrochener Zustimmung erfreut hätte" (66).
Der zweite Block widmet sich dem Thema Krieg, Gewalt und dem Ende der "Volksgemeinschaft". Barbara Grimm thematisiert in einem instruktiven Beitrag die insgesamt etwa 350 Lynchmorde an alliierten Fliegern; diese seien überwiegend nationalsozialistischen Funktionsträgern und nur in "wenigen Fällen tatsächlich [der] 'Volksjustiz'" zum Opfer gefallen (83 f.). Nicole Kramer legt in ihrem Aufsatz über Frauen im Luftschutz überzeugend dar, dass auch für den Luftschutz von einer Art Emanzipation wider Willen gesprochen werden muss, da den Frauen hier schon früh eine tragende Rolle zugewiesen wurde und sie diese dann ab 1942/43 auch tatsächlich ausfüllten; auch symbolisch wurden die im Luftschutz "gefallenen" Frauen, wie Kramer nachweist, den "gefallenen" Soldaten gleichgestellt (95 ff.). Der Herausgeber Dietmar Süß steuert in einem eigenem Beitrag zur "nationalsozialistischen Deutung des Luftkrieges" weitere spannende Thesen und Ergebnisse bei: Das NS-Regime habe sich symbolpolitisch den Zugriff auch auf den "toten Volkskörper" gesichert und den Überlebenden gleichzeitig großzügige Entschädigung versprochen; das Ende 1940 eingeführte Kriegsschädenrecht sei allerdings nur scheinbar eine "Volkskaskoversicherung" gewesen; tatsächlich war es auf einen siegreichen Verlauf des Kriegs hin formuliert (102 f.). Süß widerspricht Nolzen und dessen These von der Desintegration der NS-Gesellschaft in den letzten beiden Kriegsjahren implizit, wenn er "die Integrations- und Wirkungskraft nationalsozialistischer Politik und Propaganda", mit dem "publizistischen Antidepressivum" Goebbels (101) an der Spitze, hoch ansetzt; das "Maß an innerer Kohäsion [habe] deutlich weiter gereicht, als die Alliierten angenommen hatten" (107).
Im dritten und letzten Block, der die Erinnerungspolitik in den Mittelpunkt stellt, bietet Stefan Goebel einen vorzüglichen Aufsatz über das "transnationale Erinnerungsnetzwerk Coventry und Dresden". Hier wird u. a. David Irvings Rolle als Propagandist des Nationalsozialismus noch einmal aufgehellt, der den Mythos von 200.000 Toten - statt der tatsächlichen 35.000 - durch den Bombenangriff auf Dresden vom Februar 1945 gezielt in die Welt gesetzt hat. Im Zentrum von Goebels Ausführungen steht jedoch die Partnerschaft zwischen Coventry und Dresden, die 1956 begann, als pazifistische britische Arbeiter eine "Coventry-Dresden Friendship Society" ins Leben riefen und diese Initiative aufseiten der SED auf fruchtbaren Boden fiel. Eher enttäuschend ist der Aufsatz von Jörg Arnold über das Gedenken an den Luftangriff vom 22. Oktober 1943 auf Kassel. Man wundert sich etwa darüber, dass der Verfasser z. B. erstaunt ist über eine "Abnahme der identitätsstiftenden Bedeutung des Toten-Gedenkens seit der Mitte der sechziger Jahre" bis Ende der Siebzigerjahre und hier keine Erklärung anbieten kann. Arnold hat offenbar vergessen, dass diese Jahre die Hoch-Zeit der 68er-Bewegung mit ihren vielfältigen Bemühungen waren, die NS-Vergangenheit aufzuarbeiten, und diese Anstrengungen um die nordhessische Stadt keinen Bogen gemacht haben.
Demgegenüber ist der Aufsatz von Malte Thiessen zu dem, durch reißerische Darstellungen wie die von Jörg Friedrich aktualisierten "Gedenken" an die "Operation Gomorrha", den Angriffen auf Hamburg Mitte 1943 ausgesprochen aufschlussreich. Die "verklärende Kraft der Erinnerung" nach 1945 - vielleicht sollte man angesichts der bewussten Ausblendung des Kontexts besser von politisch kalkulierter Amnesie sprechen - machte aus dem NS-beherrschten Hamburg der zweiten Kriegshälfte eine "solidarische Durchhaltegemeinschaft", in der ganz unpolitisch die "Einheit unseres Volkes hell sichtbar" geworden sei, wie Bundestagspräsident Hermann Ehlers (CDU) 1952 erklärte; auch SPD-Politiker wählten in den Folgejahren ähnliche Formulierungen. Erst Henning Voscherau (SPD) erklärte 1993, dass man "in Zeiten, in denen der innere Frieden in Deutschland durch rechtsextreme Gewalttäter bedroht werde, [in] Hamburg auch daran erinnern [müsse], dass die Ereignisse vom 25. Juli bis zum 3. August kein isoliertes und unvermitteltes Naturereignis gewesen seien". Damit rief der Erste Bürgermeister prompt Zeitzeugen auf den Plan, die erklärten, dass "Unberufene" wie Voscherau nur "Sprüche halten über Dinge, von denen sie nur vom Hören-Sagen wissen!" (128). Völlig zu recht verweist Thießen in diesem Zusammenhang darauf, dass solche Sätze vor allem die "Narrative der NS-Propaganda", das Geschwätz der "NSDAP Hamburgs [vom] Wiederaufbauwillen und Widerstandsgeist" reproduzieren (133). Schön herausgearbeitet wird außerdem, dass die Presse gerade in Hamburg über Jahrzehnte eine volksgemeinschaftlich-egozentrische Sichtweise und selbstgerechte Erinnerung an "Gomorrha" pflegte, um dann nach dem Erscheinen des Buches von Jörg Friedrich wider besseres Wissen zu behaupten, um das "Tabu-Thema Bombenkrieg" habe "die Öffentlichkeit mehr als ein halbes Jahrhundert lang scheu einen Bogen gemacht" (129).
Eine Tendenz zur nationalen Selbstbespiegelung fällt freilich auch beim vorliegenden Band auf. Aufsätze zu Fremdarbeitern und KZ-Häftlingen, ihren Leiden unter dem Bombardement, ihrem oft hochgefährlichen Einsatz bei Aufräumungsarbeiten etc., sowie anderen diskriminierten Bevölkerungsgruppen fehlen ebenso wie z. B. eine exemplarische Skizze der Kommentierung des Luftbombardements deutscher Städte durch die ausländische Presse. Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang ein Lapsus linguae im einleitenden Beitrag Echternkamps. Auf Seite 22 heißt es: "Auch die Kriegsgefangenen wurden weitgehend in Übereinstimmung mit internationalem Recht behandelt - außer an der Ostfront allerdings" -, so als handle es sich beim verbrecherischen Umgang mit sowjetischen Kriegsgefangenen seitens der Wehrmacht und anderer NS-Stellen, der mindestens billigenden Inkaufnahme des Hunger- und Seuchentods vieler Hunderttausender, um eine historiografische Marginalie.
Den zahlreichen wichtigen Aufsätzen und vor allem der vorbildlichen - sowie vermutlich schweißtreibenden - Tätigkeit des Herausgebers, zehn Beiträge zu kompakten, hochinformativen und zugleich gut lesbaren Aufsätzen zu bündeln, soll diese Kritik keinen Abbruch tun; die monierten Lücken spiegeln wesentlich auch Forschungsdefizite. Wenn weitere Aufsatzbände ähnlich hoher Qualität folgen, wird die neue Reihe des Instituts für Zeitgeschichte weit über die Historikerzunft hinaus Resonanz finden.
Rüdiger Hachtmann