Theresa Georgen / Carola Muysers (Hgg.): Bühnen des Selbst. Zur Autobiographie in den Künsten des 20. und 21. Jahrhundert, (= Gestalt und Diskurs; 6), Muthesius-Kunsthochschule 2006, 352 S., ISBN 978-3-9808798-6-6, EUR 15,00
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"So bin ich selber, Leser, der einzige Inhalt meines Buches" [1], konstatierte Michel de Montaigne in seinen Essais von 1580 und machte den Weg dafür frei, sein Ich ganz ins Zentrum des Interesses zu stellen. Auch heute noch kommt kaum eine Monografie, kaum eine Ausstellung ohne autobiografische Informationen aus. Die Autobiografie ist seit Anfang des 20. Jahrhunderts ein Forschungsthema in den Literatur- und Geschichtswissenschaften, vor allem zurückgehend auf die Gattungstheorie von Wilhelm Dilthey und Georg Misch. [2] Letzterer hat in einer recht offenen Definition die Autobiografie als Beschreibung (graphie) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto) bestimmt. Bereits das 2004 erschienene Kunstbuch "Autobiographie. Zeitgenössische Kunst" von Barbara Steiner und Jung Yang zeigte die Aktualität der Beschäftigung mit dem Selbst und Ich auf, in dem die Protagonisten Lynn Hershman, Andy Warhol, Jeff Koons, Cindy Sherman, Christian Boltanski und andere die Bedeutung des Autobiografischen für die Kunst deutlich vor Augen führten. [3] Hier setzt der Band von Theresa Georgen und Carola Muysers an, der - im Gegensatz zu Steiner/Yang, die beispielsweise die geschriebene Autobiografie außen vor gelassen hatten - gerade das Augenmerk auf die verschiedenen medialen Prägungen autobiografischer Äußerungen von Künstlern und Künstlerinnen der letzten hundert Jahre richtet.
Neben dem Vorwort und einem einführenden Essay von Carola Muysers gliedert sich der Band in vier Kapitel (Wer spricht?, Lebens-Bilder, Krise und Erinnerung, Selbst-Gespräche), in denen sechzehn deutschsprachige Autoren verschiedenen Facetten der Kunstautobiographie im 20. und 21. Jahrhundert nachgehen. Dabei werden sowohl die klassischen Medien wie Memoiren, Tagebücher und Briefe, als auch künstlerisch-gestalterische Darstellungen, fiktional-digitale Selbstentwürfe und autobiografische Intendierungen der Künstlerausbildung, der Künstlerbiographie und des Künstlerinterviews berücksichtigt. Die Mehrzahl der Aufsätze geht auf die Tagung "Leben. Identitäten. Autorschaften. Autobiografien von KünstlerInnen seit der Moderne" zurück, die im Mai 2003 in Kooperation der Muthesius-Kunsthochschule Kiel mit der AG "Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts" (Ulmer Verein für Kunst- und Kulturwissenschaften) in Kiel veranstaltet wurde.
Das erste große Kapitel "Wer spricht?" versammelt fünf Beiträge, die sich mit dem Künstlersubjekt und seiner Gestalt beschäftigen. Peter Schneemann geht der Frage nach, inwiefern aus der Verbindung von institutioneller Ausbildung und dem Autobiografischen bislang unbekannte Koordinaten der Subjektbildung hervorgehen können. So hat Hans Hofmann, die zentrale Lehrerfigur für die zweite Generation der Abstrakten Expressionisten, ganz auf die Präsenz des charismatischen Individuums zur Vermittlung von künstlerischer Kompetenz gesetzt. Joseph Beuys sollte schließlich Lehre und Autobiografie auch unter umgekehrten Vorzeichen verbinden, die Rolle des Lehrenden wurde für sein Selbstverständnis entscheidend. Tracey Emin sieht Schneemann als exemplarisch für eine Generation von Künstlerinnen, die autobiografische Subjektbildung zum Thema macht, deren Rezeption aber durch ein gebrochenes Verhältnis zum Begriff der "Professionalität" erschwert würde (80). Dagegen untersucht Julia Gelshorn die parodistische Infragestellung von Subjektivität und Authentizität am Beispiel Sigmar Polkes. Sein ganzes Werk durchzieht das Spiel mit Künstlerlegenden und Heroisierungen, mit dem Eigennamen wie dem eigenen Erscheinungsbild. Doch werden nicht nur die Künstlermythen in ihrer Hinterfragung perpetuiert, resümiert Gelshorn überzeugend, auch erweise sich der Künstler im routinierten Umgang mit den verschiedenen Identitätsmodellen sogleich wieder als Autorität und damit "scheinbar unumgänglich als Subjekt" (126).
Renate Berger konzentriert den Blick auf die spezifische Situation von Künstlerinnen und analysiert eingehend die Renaissance des weiblichen Subjekts in Autobiografie wie Biografie. Sie bezieht die feministische Kritik an poststrukturalistischer Theoriebildung mit ein und tritt angesichts der biografischen Praxis im anglo-amerikanischen Raum für eine "offene, flexible Form" (106) von Kunst-Biographien ein. In der Abteilung "Lebens-Bilder", in der sich in weiteren fünf Texten alles um "facts & fiction" dreht, widmet sich unter anderem Verena Kuni den filmischen und elektronischen Subjektentwürfen von Lynn Hershman und Suzanne Treister. Bei beiden Künstlerinnen geht es um Bindungen und Verbindungen, Identität wird als Prozess der Verständigung mit sich und anderen aufgefasst. Das Tagebuch avanciert hier nach Kuni zum "Medium im Medium, in dessen Transformation die aufgerufenen Rahmungen des Formats zugleich akzentuiert und aufgebrochen werden" (187).
Auch im dritten Schwerpunkt "Krise und Erinnerung", der drei Beiträge beinhaltet, stehen vor allem Künstlerinnen im Mittelpunkt. So untersucht Dorothee Wimmer ausgehend von künstlerischen, filmischen und geschriebenen Arbeiten Niki de St. Phalles die Bedeutung ihres frühen Vergewaltigungstraumas und dessen Transformation auf einer ästhetischen Ebene. Wimmer interpretiert vor allem die Schießaktionen als Radikalisierung des Kunst- und Künstlerverständnisses der Sechzigerjahre (262). In der vierten Abteilung "Selbstgespräche" werden in drei Beiträgen autobiografische Positionen von Künstlerinnen der Gegenwart zusammengefasst, die um das Thema der Künstlermythen wie der Selbst-Mystifizierung kreisen. Das abschließende Gespräch der Künstlerin Cornelia Sollfrank mit der Kuratorin Ute Vorkoeper stellt nochmals die Wichtigkeit von Künstlermythen auch für die Narration von Künstlerinnen heraus. Am Beispiel von Elaine Sturtevant und Anna Oppermann wird konkret herausgearbeitet, wo und in welchem Umfang sie für ihre Erzählung von Biografie Mythen eingesetzt haben. Gerade die Weblogs stellen für Sollfrank eine "neue Ära von Tagebüchern" dar, die sich auf Grund ihrer spezifischen Eigenschaften hervorragend eignen würden, "eine Geschichte zu schreiben, die eigene Geschichte zu schreiben" (340). Hier sieht sie noch viel bislang ungenutztes Potenzial.
Das große Verdienst dieses Bandes ist die Zusammenstellung einer Vielzahl von aufschlussreichen Beiträgen zu einem wichtigen Themenkomplex, der unter verschiedenen Blickwinkeln Gewinn bringend betrachtet wird. Vor allem die explizite Herausstellung von Künstlerinnen hat sich als ausgesprochen ergiebig erwiesen. Doch im breit angelegten Rahmen liegt zugleich eine Schwäche des Bandes, der - wie jeder Sammelband mit derart großer Fragestellung - nur punktuell zugreifen kann (und soll). Angesichts des hochaktuellen Themas bleibt nur zu wünschen, dass sich möglichst bald weiter vertiefende Studien zu einzelnen Aspekten anschließen werden.
Anmerkungen:
[1] Michel de Montaigne: Essays, Leipzig 1990, 297.
[2] Wilhelm Dilthey: Das Erleben und die Selbstbiographie (1906-1911/1927) und Georg Misch: Begriff und Ursprung der Autobiographie (1907), in: Günther Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zur Form und Genese einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989, 21-55.
[3] Barbara Steiner / Jung Yan: Autobiographie. Zeitgenössische Kunst, Hildesheim 2004.
Sabine Fastert