Bettina Gockel: Die Pathologisierung des Künstlers. Künstlerlegenden der Moderne, Berlin: Akademie Verlag 2010, XIV + 376 S., 15 Farb-, 82 s/w-Abb., ISBN 978-3-05-004343-2, EUR 84,80
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"The Artist Is Present", dieser Titel einer unlängst in New York zu sehenden Ausstellung ist gegenwärtig Programm: So wie die große Abramović-Retrospektive des Museum of Modern Art im letzten Jahr nicht auf die Person der Künstlerin verzichten konnte, die dort jede Minute, die das Museum geöffnet war, regungslos auf einem Stuhl im Atrium saß, so kommt die derzeitige Forschung nach Jahrzehnten des erklärten Desinteresses momentan nicht um die Figur des Künstlers bzw. der Künstlerin herum. [1] Mit neuen Methoden und Fragestellungen wird ein vermeintlich bekanntes Terrain aktuell neu vermessen. [2] Das verbindet die Gegenwart mit der Zeit um 1900, die sich wie keine vor ihr mit dem Künstler beschäftigte, auch damals mit neuer Perspektive. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Psychiatrie Krankheitsbilder angeblich epileptischer, degenerierter oder schizophrener Künstler zu bevorzugten Themen. Künstlergeschichte geriet dadurch mehr und mehr zur Krankengeschichte; man denke nur an den kometenhaften Aufstieg eines Vincent van Gogh. Obwohl ein zentraler Baustein des modernen Kunstverständnisses, ist diese Entwicklung bislang nur anhand von Einzelstudien, nicht aber umfassend untersucht worden. [3] Gockel schließt die empfindliche Lücke nun mit der vorliegenden gewichtigen Publikation, die die Pathologisierung des Künstlers im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert kritisch in den Blick nimmt.
Das Buch ist in sechs große Kapitel gegliedert, wobei die ersten drei theoretisch angelegt sind und die weitläufige wissenschaftliche Diskussion um den Künstler darlegen. Eingangs erinnert Gockel daran, dass sich Individuum, Typus und Zuschreibung nicht ausschließen, sondern ein dynamisches Kräftefeld darstellen, ein "Amalgam kultureller, auch vom Künstler in Gang gesetzter Prozesse" (10). Für das Phänomen, dass sich ein Individuum einem kulturell vorgezeichneten Ideal in seiner Lebensweise und -praxis anverwandelt, verwendet Gockel im Anschluss an Lorraine Daston und Otto Sibum den Begriff der "persona". [4] Dabei können Erzählweisen, Intentionen und Konstruktionen seitens der Wissenschaftler nicht weniger kreativ und individuell erscheinen als im Bereich der Künste. Es ist in der Tat beachtlich, mit welcher Bandbreite an Werten und Absichten die Pathologisierung des Künstlers um 1900 ihre wissenschaftliche Begründung erfuhr. Zugleich standen Umwertungsprozesse von Krankheitsbildern auf dem Prüfstand, die mit dem Künstler assoziiert wurden. Im Folgenden geht Gockel zwei Strängen der Wissenschaftsgeschichte nach, die sich aus biologisch und psychologisch argumentierenden Autoren bilden.
Das für die Untersuchung herangezogene Textkorpus ist ausgesprochen umfangreich, dennoch erfolgt eine bemerkenswert genaue Lektüre der Quellen. In diesem Zusammenhang diskutiert Gockel bekannte Namen, wie Max Nordau oder Sigmund Freud, stellt aber auch eine Reihe wichtiger Neuentdeckungen vor. So wird im zweiten Kapitel Emil Kraepelins Schwächebegriff in Bezug auf den Künstler gründlich analysiert, und Heinrich Stadelmann erfährt mit seiner aufschlussreichen Schrift "Die Stellung der Psychopathologie zur Kunst" erstmals eine angemessene Würdigung. Bei Stadelmann findet sich bereits 1908 ansatzweise die positive Bewertung des Krankseins als möglicher Quelle kreativer Äußerungen, ohne eine "Ästhetik des Häßlichen" (57) zu postulieren. Des Weiteren widmet sich Gockel im dritten Abschnitt ausführlich dem lange von der Forschung übergangenen medizinischen Genre der Pathografie, indem sie Werke von Wilhelm Lange-Eichbaum, Norbert von Hellingrath, Ludwig Binswanger d.J. und Karl Jaspers eingehend untersucht. Überzeugend kann sie eine allmähliche und auch ineinander verwobene Verschiebung von der Biologisierung zur Psychologisierung des Künstlers aufzeigen. Der Künstler wird, aufgeladen mit positiven Regressionsphantasien, zum Heroen höchster Empfindsamkeit in einer katastrophischen Moderne. So sah Binswanger den Künstler schließlich gar als Vorbild, als "Identifikationsfigur des Psychiaters" (96).
Nach der tief greifenden Analyse des theoretischen Rahmens sind die letzten drei Kapitel exemplarisch angelegt. Im vierten Abschnitt untersucht Gockel den Zusammenhang von Lebenswende, Krankheitsgeschichte und Stilwechsel bei Ernst Ludwig Kirchner. Sie stellt Bezüge zu den bereits erwähnten Überlegungen Binswangers her, dem Arzt des Künstlers, und interpretiert u.a. die Bildnisserie, die Kirchner 1917/18 im "Bellevue" anfertigte, als Visualisierung von Binswangers Auffassung von Krankheit und Genialität (115). Kirchner wollte mit diesen Arbeiten, wie er später einmal festhielt, seine geistige Gesundheit belegen. Das fünfte Kapitel ist Paul Klee gewidmet, dessen Selbstbildnisreihe von 1919 beispielsweise einen ironischen Kommentar zur biologistischen Variante der Geniedebatte und der mit ihr einhergehenden notorischen Klassifikation von Schädelmerkmalen darstelle. "Im Grunde sind dies", so Gockel, "die widerständigsten, radikalsten (Selbst-)Darstellungen Klees, weil sie unzeitgemäß sind und erst wieder auf erschreckende Weise in die Nazi-Ideologie vom entarteten Künstler passen sollten" (189). Bei Klee führte die Auseinandersetzung schließlich zur gänzlichen Aufgabe der Gattung Selbstporträt. Das sechste Kapitel ändert den Blickwinkel erneut und rückt mit Aby Warburgs Vortrag über das Schlangenritual den Prozess der Pathologisierung als Thema und Instrument kulturwissenschaftlicher Reflexion in den Mittelpunkt des Interesses. Dabei verwendete Warburg, wie Gockel zeigen kann, das Krankheitsbild der Schizophrenie, um "sein Verständnis anthropologisch begründeter Praktiken der Überführung von Natur in Kultur unter steter Polaritätsspannung deutlich zu machen" (257).
Mit diesem weiten inhaltlichen Bogen erfüllt Gockels Buch vortrefflich, was sie sich im Vorwort erhofft hat: die Fortführung und Erweiterung des von Ernst Kris und Otto Kurz 1934 vorgelegten Klassikers "Die Legende vom Künstler". [5] Zum einen schließt sie mit ihrer beeindruckenden Studie zeitlich an deren Ausführungen an und blickt auf die Moderne. Zum anderen erweitert sie den methodischen Zugriff, indem sie die Anverwandlung des Künstlers nicht mehr dem Unbewussten zuschreibt, sondern kritisch hinterfragt und historisch verortet. Ein heikles, aber eminent wichtiges Thema wird so, endlich möchte man fast sagen, gründlich aufgearbeitet. Dies erscheint umso wichtiger, als die hier aufgezeigten wissenschaftlichen Schemata von Psychologisierung und Biologisierung des Künstlers bekanntlich im Nationalsozialismus in eine reine Stigmatisierung des so genannten entarteten Künstlers umschlugen. Gockel liefert mit ihrem eindrucksvollen Buch die Vorgeschichte, die sich aber viel komplexer darstellt, als bislang gedacht.
Anmerkungen:
[1] Klaus Biesenbach (Hg.): Marina Abramović: The Artist Is Present, Ausstellungskatalog Museum of Modern Art, New York 2010.
[2] Vgl. zuletzt: Sabine Fastert / Alexis Joachimides / Verena Krieger (Hgg.): Die Wiederkehr des Künstlers. Themen und Positionen der aktuellen Künstler/innenforschung, Köln 2011.
[3] Vgl. Stefan Koldehoff: Van Gogh - Mythos und Wirklichkeit, Köln 2003.
[4] Lorraine Daston / Otto Sibum: Scientific Personae and their Histories, in: Science in Context 16 (1/2) (2003), 1-8.
[5] Ernst Kris / Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Wien 1934.
Sabine Fastert