Berndt Hamm / Klaus Herbers / Heidrun Stein-Kecks (Hgg.): Sakralität zwischen Antike und Neuzeit (= Beiträge zur Hagiographie; Bd. 6), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, 294 S., ISBN 978-3-515-08903-6, EUR 42,00
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Ohne Sakralität ist Religiosität für uns nicht denkbar, dennoch lässt sich Heiligkeit nur schwer begrifflich fassen. Setzt sich die historische Forschung mit dem Heiligen auseinander, hat sie zumeist einzelne Manifestationen des Heiligen im Blick, in deren jeweiligem Kontext Sakralität als klar definiert erscheint. Religionstheoretische Überlegungen, die sich ebenfalls um eine Klärung des Begriffs bemühen, erklären das Heilige als Übergeschichtliches, Objektives, sei es als Numinoses oder in der Gegenüberstellung zum Profanen, um nur zwei der gängigen Theorien zu nennen. Ein absoluter Begriff des Heiligen greift jedoch zu kurz, da er die Dynamik, die dem Untersuchungsobjekt innewohnt, verleugnet. Diese Problematik erfuhr bisher wenig Beachtung, sie bewusst zu thematisieren ist dem anzuzeigenden Band hoch anzurechnen. Er ist hervorgegangen aus einer Tagung im Kloster Banz, die 2004 durch das Zentrum für europäische Mittelalter- und Renaissanceforschung in Kooperation mit dem Graduiertenkolleg 516 'Kulturtransfer im europäischen Mittelalter' veranstaltet wurde. Vereint werden die siebzehn Vorträge nun zu einem Panorama der "Sakralität zwischen Antike und Neuzeit", konzipiert als chronologisch breites, interdisziplinäres und über das christliche Europa hinausgreifendes Projekt. Die sich ergebende Multiperspektivität wird von den Herausgebern als Chance begriffen, das Phänomen Heiligkeit in seiner ganzen Formenvielfalt jenseits feststehender Definitionen zu erforschen. Zur Gliederung und Vereinheitlichung der Interpretationszugänge haben die Herausgeber fünf Leitperspektiven gewählt, die den Band in Kapitel aufteilen. Um der Programmatik des Bandes gerecht zu werden, wird jeder Aufsatz kurz gewürdigt.
Der erste thematische Block widmet sich "Konzeptionen, Begründungen und Legitimierung von Heiligkeit". Die Konzeption von Heiligkeit, ausgehend von der disparaten Zusammenstellung von Aussagen zur Frömmigkeit Thomas' von Aquin über Abaelard zu Platon zeichnet Maximilian Forschner (15-22) nach. Grundlegende Unterschiede ergeben sich in der Betonung von sinnfälligen äußeren Zeichen der Frömmigkeit durch Thomas und dem Vorzug des Geistigen bei Abaelard und Platon. Mit sakraler Zeit und deren Legitimationskraft befasst sich Eve-Marie Becker (23-44). Sie zeigt, wie sich im Spiel mit der Sabbatheiligung unterschiedliche religiöse Gruppen innerhalb des Judentums bis zum frühesten Christentum voneinander abgrenzen. Stärker der Konstruktion von Heiligkeit wendet sich Susanne Wittekind (43-60) zu. Sie bietet mittels der Untersuchung von Visionsdarstellungen in Bild und Text einen instruktiven Einblick in die Heiligkeitsmodelle der Bildviten des Hochmittelalters. Dass in Japan Heiligkeit nicht wie in der europäischen Kultur durch Transzendenz definiert wird, sondern nur in der Beziehung von Mensch zu Mensch entsteht, demonstriert Peter Ackermann (61-71).
Der zweite Abschnitt behandelt "die Präsenz des Heiligen im Raum". Carola Jäggi (75-89) macht plausibel, dass ein heiliger Raum im Christentum eigentlich ein Paradoxon ist, sich jedoch zunehmend durchsetzt und sich anhand von architektonischen Merkmalen verschiedene Zonen von Sakralität im Raum abbilden. Beschäftigt Jäggi sich mit der Ablesbarkeit der Sakralisierung des Raums an Architekturmerkmalen, so wählt Sible L. de Blaauw (91-99) den Zugang über die Entwicklung des Weiherituals in Rom. Ein Sakralitätskonzept entsteht dort primär über den Reliquienkult. Neben diese Studien zur Sakralisierung von Mikroräumen tritt der Aufsatz von Klaus Herbers (101-111) zur Sakralisierung von Grenzlandschaften. Mit der Untersuchung verschiedener Heiligendossiers zeigt er exemplarisch, wie sich politische Strukturen in Heiligenkulten manifestieren und so Sakrallandschaften in Grenzräumen geschaffen werden.
Unter der Leitperspektive "Heiligkeit im Verhältnis zur politischen und gesellschaftlichen Ordnung" steht der nächste Teil. Im Aufsatz von Hanns Christof Brennecke (115-122) geht es um die Legitimierung von Herrschaftsordnungen durch Heiligkeit. Seine Überlegungen gelten der Vita des Styliten Daniel, der als Garant bischöflicher wie kaiserlicher Herrschaft geschildert wird. Weniger der Legitimation von Herrschaft, sondern vielmehr einer christlichen Gesellschaftsordnung ist Martin Heinzelmann (123-136) auf der Spur. Er stellt überzeugend dar, dass die Vorstellung einer societas sanctorum im 5.-9. Jh. das Leitkonzept gesellschaftlichen Handelns war. Unter deutlich stärker politischen Prämissen untersucht Hubert Seelow (137-144) skizzenhaft die Entstehung einer christlichen Gesellschaft in Island.
Das vierte Kapitel ist mit "Spannungen im Heiligkeitsverständnis" überschrieben. Susanne Köbele (147-169) widmet sich dem interessanten Problem der Begründung von Heiligkeit anhand von Heiligkeitsentwürfen verschiedener Mystiker. Deren Konzeptionen stehen nicht nur in Widerspruch zur orthodoxen kirchlichen Lehre, sondern entwickeln ihre Dynamik erst aus einer inneren Ambivalenz. Michael Lackner (171-183) erläutert anhand der Lehre der zwei Naturen des Konfuzius im China des 11. Jh. eine dem Europäischen ähnliche Heiligkeitsvorstellung. Die Heiligkeit des Konfuzius entspringt dem Nebeneinander von den zwei Naturen des Göttlichen - dem Sein und dem Werden. Das Thema von Berndt Hamm (186-221) ist der Zusammenhang von Ars moriendi, Totenmemoria und Bildfrömmigkeit, wobei er sich besonders für das Verhältnis von innerer Andacht und rettender Gnade interessiert. Dem Gegensatz, der von Sakralität und Desakralisierungstendenzen gekennzeichnet ist, gehen Wolfgang Wüst und Annette Haberlah-Pohl (223-234) mit der Betrachtung der süddeutschen Kloster- und Stiftslandschaft nach.
Der letzte Abschnitt handelt von "Entwicklungen, Umbrüchen und Kontinuitäten von Heiligkeit". In einer Studie zu Bildern und Vorbildern für den monastischen Weg zur Heiligkeit erläutert Heidrun Stein-Kecks (237-260), wie sich das Bild des miles christianus und seines Kampfes gegen das Böse von der Spätantike bis in das Spätmittelalter wandelt. Aber nicht nur Konzepte, auch Heiligenkulte verändern sich und passen sich den Gegebenheiten an. Das legt Michele C. Ferrari (261-274) dar, indem er die identitätsstiftende Kraft der beiden Heiligen Regula und Felix in Zürich über die Reformation hinaus untersucht. Mit dem reformatorischen Umbruch beschäftigt sich auch Martin Ohst (275-287). Er bearbeitet die Märtyrergeschichten des calvinistischen Theologen John Foxe. Dieser entwirft ein neues Heiligenmodell, indem er alle Logik des Verdienstes und der Interzession ausschließt und nur das unwiderrufliche Bekenntnis zur Wahrheit angesichts des drohenden Todes als heiligend gelten lässt.
Allein schon die zahlreichen Einzelergebnisse machen den Band sehr lesenswert. Doch sein größter Wert - zugleich sein größter Nachteil - liegt in seiner Offenheit, die durch die historisch-phänomenologische Herangehensweise und die in einigen Fällen als Projektentwurf formulierten Aufsätze entsteht. Zwar findet der Band nicht zu einem geschlossenen Bild, aber es gelingt ihm etwas viel Bedeutungsvolleres, Heiligkeit nicht mehr als absoluten, sondern als jeweils spezifischen Begriff zu denken. Indem die Vielgestaltigkeit der Heiligkeit in den Mittelpunkt der Untersuchung gerückt und ernst genommen wird, löst man sich von bisher verwendeten, fest gefügten Definitionen, erweist sie so als unzulänglich und eröffnet neue Forschungsperspektiven.
Miriam Czock