Rezension über:

Stefan Rohdewald: "Vom Polocker Venedig". Kollektives Handeln sozialer Gruppen einer Stadt zwischen Ost- und Mitteleuropa (Mittelalter, frühe Neuzeit, 19. Jh. bis 1914) (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa; Bd. 70), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005, 588 S., 15 Abb., ISBN 978-3-515-08696-7, EUR 96,00
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Rezension von:
Guido Hausmann
Department of Russian and Slavonic Studies, University of Dublin
Redaktionelle Betreuung:
Winfried Irgang
Empfohlene Zitierweise:
Guido Hausmann: Rezension von: Stefan Rohdewald: "Vom Polocker Venedig". Kollektives Handeln sozialer Gruppen einer Stadt zwischen Ost- und Mitteleuropa (Mittelalter, frühe Neuzeit, 19. Jh. bis 1914), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 7/8 [15.07.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/07/13317.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Stefan Rohdewald: "Vom Polocker Venedig"

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Stefan Rohdewald untersucht in seiner nun als Buch vorliegenden überarbeiteten Züricher Dissertation von 2004 das gemeinschaftliche Handeln kollektiver und korporativer Akteure in der Stadt Polock vom Mittelalter bis 1914. Im Zentrum stehen Formen der Selbstdefinition, Eigendarstellung und Fremdwahrnehmung sowie Handlungsspielräume und Kommunikation.

Das Buch ist chronologisch in vier große Teile gegliedert. Nach einer Einleitung wird zunächst Polock als Fürstensitz der Waräger dargestellt; der zweite Teil hat die Geschichte der Stadt in der Zeit der Jagiellonen zum Gegenstand; der dritte Teil ist Polock in der polnischen Adelsrepublik (1579-1772) gewidmet, ehe der Verfasser im letzten, ca. 170 Seiten umfassenden Teil Polock als Kleinstadt im Russländischen Imperium bis 1914 (administrativ war es nun eine Kreisstadt im Gouvernement Vitebsk) untersucht.

Damit sind wenigstens drei Besonderheiten der Darstellung angesprochen: einmal der über Epochengrenzen hinausgehende Zeitrahmen der Untersuchung, zum zweiten die Zugehörigkeit der Stadt zu unterschiedlichen politischen Ordnungen und drittens der (zumindest über viele Jahrhunderte) periphere, kleinstädtische und gleichzeitig multikonfessionelle Charakter der Stadt. Methodisch verknüpft das Buch Sozialgeschichte (Sozialraum und Sozialtopographie) mit Rechts- und politischer Geschichte einerseits und Kulturgeschichte (Kommunikationsräume und Sprachfelder) andererseits.

Das erste umfassende Kapitel über die mittelalterliche Entwicklung basiert vor allem auf einer Auswertung von Chroniken aus dem 12. Jahrhundert. Polock gewann als fürstlicher Herrschaftssitz, als Handelszentrum (seit dem 13. Jahrhundert als Hinterland von Riga) und seit der Mitte des 11. Jahrhunderts als orthodoxer Bischofssitz Bedeutung. Der Verfasser konzentriert sich auf eine Diskussion des Wandels der Beziehungen zwischen Fürst und Stadtbewohnern (Fürstenvertreibung, Versöhnung, Eid, Volksversammlungen, schließlich seit dem 12. Jahrhundert auch vertragliche Beziehungen und Gerichtsbarkeit). Landesordnungen belegen einen Einfluss der Stadtbevölkerung bei der Einsetzung von Fürsten, doch bildete sich keine institutionelle Bindung zwischen Fürst und Stadt heraus.

Seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts gehörte Polock dauerhaft zum Großfürstentum Litauen und war seit 1385 Teil Polen-Litauens. Der Polocker Fürst wurde nun durch einen großfürstlichen Statthalter ersetzt. Rohdewald zeigt in diesem Kapitel in sehr differenzierter Weise, wie die Stadt in die politische Kultur Ostmitteleuropas hineinwuchs. Von herausragender Bedeutung für das Selbstverständnis der Polocker waren die verrechtlichten Handelsbeziehungen mit Riga einerseits und die durch die Verleihung eines großfürstlichen Privilegs gestalteten Beziehungen zwischen Großfürst und Stadt andererseits.

Neue soziale Gruppen (wie Bürger und Bojaren) bildeten sich als separate kollektive Akteure, etwa auf Versammlungen, wandten sich aber nicht unbedingt gegen die Statthalter. Die Bewidmung mit dem Magdeburger Stadtrecht 1498 schuf neue Institutionen wie Stadtrat und Vogtsgericht, gleichwohl konnte die neue Bürgergemeinde aber nur einen Teil des Stadtgebietes unter ihre fiskalische und richterliche Gewalt bringen und erlangte auch nur eine geringe Autonomie vom Vogt/Fürst. Rohdewald bringt das zusammenfassend in der Formulierung 'teilautonome Stadtgemeinde' auf den Punkt.

Zwischen 1579 und 1772 war Polock eine "der wenigen Mittelstädte der Adelsrepublik" (217), verlor aber gegenüber Vitebsk, Minsk und Grodno zunehmend an Bedeutung. Wechselnde Herrschaft und Stadtbrände waren nur zwei Gründe dafür, dass Polock um die Mitte des 18. Jahrhunderts weniger Einwohner als in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hatte. Zu den grundlegenden Prozessen, die Rohdewald in diesem Kapitel diskutiert, gehören rechtliche Entwicklungen und Veränderungen in der ethnokonfessionellen Zusammensetzung der Stadtbevölkerung. Charakteristisch war für die Stadt, dass Grund- und Gerichtsherrschaft bis 1772 nicht zur Deckung kamen, da zum Beispiel viele Adlige in der Stadt Hofstellen besaßen. Dieser Befund geht nach Ansicht des Verfassers weit über ähnliche Verhältnisse in anderen Städten Polens hinaus. Insofern dominierte ein "Pluralismus von Herrschaftsrechten" gegenüber einem rechtsstädtischen Verbandscharakter (229). Aber auch unabhängig davon konnte der Stadtrat bzw. der Magistrat seine Autorität gegenüber der Stadtbevölkerung häufig nur bedingt durchsetzen. Rohdewald betrachtet in diesem Zusammenhang vor allem zwischenkonfessionelle Konflikte. Diese werden von ihm nur eingeschränkt auf soziale Konflikte zurückgeführt (oder reduziert), zumal für die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts das gemeinsame Handeln von Rat und Gemeinde betont wird. Die Brester Union von 1596 führte zwar langfristig zu einer Katholisierung der Stadtbevölkerung, hatte im 17. Jahrhundert aber zunächst schwerwiegende zwischenkonfessionelle Konflikte zur Folge. Die Schilderung der Mobilisierung konfessioneller Ressourcen im städtischen Raum und der Konflikte zwischen unierter, orthodoxer, katholischer Geistlichkeit und Laiengruppen (etwa Bruderschaften, und auch die wachsende jüdische Gemeinde wird in die Diskussion einbezogen) durch das gesamte 17. Jahrhundert gehört zu den besten Kapiteln des Buches. Sie ist gleichermaßen anschaulich und erklärend und bietet damit in vorzüglicher Weise die Vorzüge einer Lokalstudie. Im Kern ging es bei den Auseinandersetzungen um sich ausschließende Monopolansprüche auf die Stadt als 'sakralen Raum'.

Als Polock 1772 Teil des russländischen Imperiums wurde, war die Stadt zwar kein wichtiges Handels- und Gewerbezentrum mehr, hatte sich aber in vielfältiger Weise in die polnisch-litauische Adelsrepublik integriert. Rohdewald geht in dem diesbezüglichen Kapitel der Frage nach, wie sich diese Einbindung auf die Entwicklung stadtbürgerlichen Handelns im 19. Jahrhundert im Rahmen des Zarenstaates auswirkte. Zu den Kennzeichen der Stadt Polock in diesem Zeitraum gehörten die geringe Industrialisierung sowie der Umstand, dass Standesgrenzen bedeutsamer blieben als soziale Klassenbildung und dass Juden die Bevölkerungsmehrheit der Stadt stellten.

Der Verfasser zeigt hier einen Wandel kollektiven Handelns. Die katharinäische Städteordnung von 1775 stellte Christen und Juden gleich und hatte somit einen inklusiven Charakter. Anfängliche Widerstände in der christlichen Bevölkerung schwanden um die Wende zum 19. Jahrhundert und vor allem der ärmere Teil der Polocker Juden drängte auf Partizipation. Rohdewalds Schlussfolgerungen für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts sind freilich bisweilen etwas gewagt. So soll vor allem eine genauere Analyse der Stadtbürgermeisterwahl von 1839 die Herausbildung einer überkonfessionellen Stadtgesellschaft belegen. Diese Konsensbildung wurde aber in zunehmendem Maße "von oben" aufgekündigt, und zwar durch eine Reihe von einschränkenden Maßnahmen gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Es wurden aber immer wieder ad hoc Handlungseinheiten über konfessionelle Grenzen hinweg gebildet. Auch eine höhere Wahlbeteiligung zum Stadtrat als in den zentralrussischen Städten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird als Indikator für das Nachwirken anderer Traditionen gewertet. Große Bedeutung für die Desintegration der städtischen Gesellschaft misst Rohdewald der Stadtordnung von 1892 zu, da diese die jüdische Bevölkerung weitgehend aus der Stadtgemeinde ausschloss. Dieser Exklusionsprozess wurde gesellschaftlich mitgetragen, wie Fälle von Denunziation belegen. Die Konfessionalisierung und Nationalisierung des städtischen Raumes zu Beginn des 20. Jahrhunderts wirkte zerstörerisch auf die Stadt als Handlungseinheit, da nun partikulare Interessen in den Vordergrund rückten.

Polock war vor 1914 kaum in gesamtnationale Kommunikationszusammenhänge integriert, es gab keine politischen Parteien und keine Tageszeitungen. Umso größere Bedeutung hatten aber Assoziationen, die von Rohdewald in etwas enzyklopädischer Weise untersucht werden. Deutlich erkennbar ist aber die herausragende Bedeutung der "Nikolaj-und-Efrosinija-Bruderschaft" für die orthodoxe und national-russische Mobilisierung sowie der Begräbnisbruderschaft für die Polocker Juden. Insgesamt ergibt sich hier ein gemischtes Bild aus ethnokonfessioneller Mobilisierung und über- oder transkonfessioneller Vergesellschaftung. Erkennbar ist auch, dass gesellschaftliches Engagement in Assoziationen der sozialen Statuserhöhung diente und Assoziationen für die jüdische Bevölkerung nach dem Ausschluss aus den Selbstverwaltungsorganen eine Ersatzfunktion hatten. Polock ähnelte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in vielerlei Hinsicht vergleichbar kleinen bzw. großen Städten an der westlichen Peripherie des Zarenstaates. Das Pogrom von 1905 fügte sich insofern genauso in das allgemeine Bild ein wie die Mobilisierung orthodoxer Ressourcen durch die Rückführung der seligen Evfrosinija im Jahre 1910.

Der lange Untersuchungszeitraum führt notwendigerweise dazu, dass nicht jede Zeitepoche in gleicher empirischer und interpretatorischer Dichte dargestellt werden kann. Das allein ist kein Problem, irritierend ist aber bisweilen, dass nicht deutlich gemacht wird, warum bestimmte Ereignisse oder Fälle untersucht werden, andere aber nicht (etwa bei der Untersuchung der lokalen Wahlen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts). Auch sind einige Schlussfolgerungen angesichts der schmalen empirischen Grundlage etwa für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts recht gewagt oder grenzen ans Spekulative.

Insgesamt jedoch überzeugt die Untersuchung durch analytische Schärfe, Stringenz und Sprachsicherheit. Sie beeindruckt zudem durch die perspektivische Vielfalt, die gelungene Einordnung in unterschiedliche Forschungskontexte und die Vergleiche mit der polnischen, der russländischen und der westeuropäische Entwicklung. Sie liefert eine Fülle von neuen Forschungsergebnissen und ist ein äußerst willkommener Beitrag zur Stadtgeschichte Mittel- und Osteuropas.

Guido Hausmann