Claus Scharf (Hg.): Katharina II., Russland und Europa. Beiträge zur internationalen Forschung (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Universalgeschichte; Beiheft 45), Mainz: Philipp von Zabern 2001, 607 S., ISBN 978-3-8053-2009-2, EUR 45,00
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Die Beiträge dieses Konferenzbandes gehen auf eine internationale Tagung des Mainzer Institutes für Europäische Geschichte anlässlich des 200-jährigen Todestages der Zarin Katharina II. in Zerbst im Jahr 1996 zurück. Katharinas Herrschaft ist in der deutschen Forschung in den letzten Jahrzehnten eher stiefmütterlich behandelt worden, die Impulse gingen und gehen eher von der britischen und amerikanischen, in der letzten Zeit auch von der russischen Forschung aus. Anlässlich des Todestages Katharinas ist es unter anderem auch in Deutschland zu einer Art "Konferenzbandoffensive" gekommen.
Der Herausgeber, einer der wenigen deutschen Spezialisten zur Herrschaft und Herrschaftszeit Katharinas, hat mit den 25 Autoren dieses Bandes einen großen Teil der international ausgewiesenen Experten vereinigt. Welches Bild wird entworfen, welche Impulse gehen nun von dem vorliegenden Band für die Forschung aus?
Die Veröffentlichung gliedert sich in vier große Blöcke: einen außenpolitischen Teil, einen zweiten Teil zur europäischen Aufklärung, einen dritten Teil zur Modernisierungsfrage und einen letzten, im engeren Sinn biografischen Teil. Ein kürzerer Anhang stellt russische Archivmaterialien vor (A.B. Kamenskij) und druckt die Protokolle der Sektionen ab. Es lohnt sich, diese Protokolle zuerst zu lesen, denn sie zeigen die Forschungsschwerpunkte und führen in laufende Fragestellungen und Kontroversen ein. Sie beziehen sich vor allem auf die Frage der Modernisierung, das heißt die innenpolitische, wirtschaftliche und soziale Erneuerung dessen, was in der Kapitelüberschrift "Katharinas Reformabsolutismus" genannt wird (576-580), zum andern Teil auch auf die Frage der Aneignung von Ideen der europäischen Aufklärung. Die Beiträge zur Biografie sind dagegen wohl eher eine Referenz an das Jubiläumsereignis, der erste Teil zur Großmachtstellung Russlands in Europa birgt nur vereinzelt Neues. Herauszuheben sind in diesem Teil neben dem inspirierten, aber nicht neuen einführenden Aufsatz von Hamish M. Scott über 'Katharinas Rußland und das europäische Staatensystem' der Beitrag von Vasilios N. Makrides über die russisch-griechischen Beziehungen, die zumal in der deutschsprachigen Forschung selten angemessen berücksichtigt werden, sowie die Beiträge über den Teschener Frieden von 1779 von Karl Härter und Karl Otmar Freiherr von Aretin. Nach Härter war Russland als Garantiemacht des Teschener Friedens nicht automatisch Garantiemacht des Westfälischen Friedens und der Reichsverfassung. Stumm bleibt leider die Stimme des Osmanischen Reiches in diesem Mächtekonzert.
Aus dem zweiten Teil über Katharina und die europäische Aufklärung sind die Beiträge von Michael Schippan und Ingrid Schierle hervorzuheben. Schippan zeigt, dass die Verbreitung völkerrechtlicher Lehren in Russland im Laufe des 18. Jahrhunderts dazu führte, dass die Mehrheit der Publizisten im Zarenreich kritisch gegenüber Kriegshandlungen eingestellt war. Schierle untersucht Bedeutungen und Anwendungsgebiete des Begriffs 'Gesellschaft' in der russischen Übersetzung als obšcestvo, ein "Allgemeinbegriff für soziale Zusammenschlüsse" unterschiedlicher Art (306). In der Analyse der sprachlichen Adaption und Begriffsneubildung kann der Wandel des Herrschaftsverständnisses deutlich gemacht werden, aber auch die Ursprünge der Einflüsse. Beide Beiträge öffnen sich für eine sozial- und/oder kulturgeschichtliche Begriffsgeschichte.
Der dritte Teil zur Frage innerer Modernisierung zeigt, wie unbestellt viele Felder der russischen Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts sind und wie weit die Gesamturteile über die Herrschaft Katharinas auseinander gehen. Gegenüber einer zunehmend positiven Einschätzung in der Historiografie spricht etwa LeDonne der Herrschaft Katharinas einen modernisierenden Charakter weitgehend ab und sieht eher Europäisierung, Personalisierung der Herrschaftsbeziehungen und wirtschaftliches Wachstum als Signum der Epoche. Janet Hartley sieht dagegen etwa in den Organen der städtischen Selbstverwaltung in St. Petersburg und den benachbarten Städten nicht, wie traditionell behauptet, aus Westeuropa eingepflanzte, leblose Körperschaften, sondern weist Ansätze ihrer aktiven Aneignung nach. Auch Claus Scharf kommt zu einer eher positiven Wertung der Reform der Provinzialadministration, wie er am Beispiel von Kazan' an der mittleren Wolga zeigt. Allerdings führt er den Erfolg der Einführung der neuen Gouvernementsinstitutionen nach 1775 weniger auf die Akzeptanz durch den regionalen Adel zurück als auf eine allgemein stärkere staatliche Präsenz vor Ort (vor allem durch die militärische und polizeiliche Gewalt). Die Frage der Durchherrschung des Zarenreiches wird ein Forschungsthema bleiben, weil es die Kernfrage nach Macht und Ohnmacht zarischer Autokratie vor Ort betrifft, eine Frage, die in verwandter Form auch für die Monarchien West- und Mitteleuropas in den letzten Jahrzehnten immer wieder gestellt wurde.
Auch der führende russische Spezialist A.B. Kamenskij entwirft ein positives Bild des sich unter und durch Katharina modernisierenden Russland, nennt unter anderem die "Entstehung einer säkularisierten Gesellschaft", die "Entsakralisierung des Herrscherbildes" und hebt einen "liberalen Regierungsstil" hervor. Es überzeugt aber nicht, wenn die Intentionen der Herrscherin Grundlage eines solchen Urteils sind. Das weist auch methodisch eher in die Vergangenheit zurück, auch wenn das 18. Jahrhundert in gewisser Hinsicht ein Jahrhundert der Intentionen war. Dieser Zweifel betrifft auch Isabel de Madariagas Beitrag über den Ursprung der Bürgerrechte in Russland im 18. Jahrhundert, die den bekannten Einfluss von William Blackstone herausstellt, aber immerhin nur von Anfängen spricht. Die St. Petersburger Historikerin Galina I. Smagina stellt kenntnisreich die Anfänge eines Volksschulwesens dar, inklusive erster Lehrerseminare und Schulbücher. Ihre Annahme, die Lesefähigkeit der männlichen Bevölkerung habe zu Beginn des 19. Jahrhunderts bei fast 40% gelegen, ist allerdings fehlerhaft und kann selbst für die Stadtbevölkerung nicht gelten. Das hat auch Rückwirkungen auf ihre Bewertung der Schulpolitik Katharinas.
Nur zwei Beiträge stellen die Leibeigenschaftsordnung ins Zentrum, Edgar Melton und Roger Bartlett. Bartlett sieht ihren ökonomischen und sozialen Nutzen für das Regime, Melton öffnet den Blick auf die Binnendifferenzierung der agrarisch-bäuerlichen Welt und hebt die Scharnierfunktion bäuerlicher Amtsträger zwischen ländlichen Gemeinden und grundherrlicher Obrigkeit hervor.
Die Beiträge zeichnen sich insgesamt durch einen hohen Kenntnisstand aus, sind aber nicht durchgehend innovativ und - aus der Sicht des Rezensenten - häufig zu sehr auf die Person Katharinas bezogen. Andererseits war zugegebenermaßen ihr Todestag Anlass der Veröffentlichung. Es verwundert, dass die Frage der Rückwirkungen zarischer Expansion auf die Religions-, Nationalitäten- und Bevölkerungspolitik ausgeblendet wurde, weil dies das Zarenreich wesentlich gekennzeichnet hat. Wenn so bei den russischen und deutschen Beiträgen ein positiver Grundton gegenüber Katharina durchscheint, muss die polnische Historikerin Zofia Zielinska abschliessend trocken feststellen, "dass Katharina eher emotional als rational reagierte. Dieses Urteil ist jedoch für einen Politiker nicht das beste".(84) Alte Konstellationen?
Guido Hausmann