Gerhard P. Groß (Hg.): Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung (= Zeitalter der Weltkriege; Bd. 1), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006, VIII + 415 S., ISBN 978-3-506-75655-8, EUR 38,00
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Die Ostfront des Ersten Weltkrieges dem kollektiven Vergessen zu entreißen, war das Ziel einer internationalen Tagung, die das Militärgeschichtliche Forschungsamt und das Deutsche Historische Museum anlässlich des 90. Jahrestages des Kriegsbeginns im Mai 2004 in Berlin durchgeführt haben. Nun liegt der von Gerhard Groß herausgegebene Tagungsband vor, der 23 Beiträge umfasst und sich in drei Themenblöcke gliedert. Der erste ist den Kampfhandlungen selbst gewidmet, die 1914/15 stattfanden. Der zweite behandelt die Feind- und Selbstbilder sowie die Kriegserfahrungen und ihre Verarbeitung und der dritte Themenblock die Gedenkkultur des Ersten Weltkrieges. Ein letzter, zusätzlicher Beitrag befasst sich mit dem Kontinuitätsproblem, indem gefragt wird, ob der Ostfeldzug des Ersten das Vorspiel zum Vernichtungsfeldzug des Zweiten Weltkrieges war.
Zweierlei soll zunächst positiv hervorgehoben werden: erstens, dass der Band nicht nur die 'alte Garde' internationaler Weltkriegsexperten zu Wort kommen lässt, sondern auch eine Reihe jüngerer Historiker, die bereits mit Studien zum Ersten Weltkrieg hervorgetreten sind; zweitens, dass er nicht nur deutsche oder westeuropäische Sichtweisen abbildet, sondern naheliegenderweise auch osteuropäische. Die internationalen, von Historikern aus acht Ländern verfassten Beiträge zeichnen ein vielseitiges und zugleich differenziertes Bild der Ostfront. Damit stützt - und erreicht - der Band das Ziel der Tagung zu zeigen, dass "der Krieg im Osten bisher zu Unrecht in der Forschung ein Schattendasein geführt" hat (3).
Es ist hier nicht der Ort, alle Beiträge zu referieren, zumal Gerhard Groß' Einleitung eine konzise Zusammenfassung liefert (1-9). Vielmehr geht es darum, besondere Erkenntnisse hervorzuheben und den Band insgesamt in der Forschung zu verorten. So zeigt Groß in seinem Beitrag nicht nur wie spannend, sondern auch wie wichtig Operationsgeschichte ist, weil sie verdeutlicht, dass Siege und Niederlagen im Krieg nicht nur strukturelle Ursachen haben, sondern eben in hohem Maße von der Kriegführung, Entscheidungen und Operationen abhängen. So sollte sich die gewonnene Schlacht von Tannenberg als Pyrrhussieg erweisen, weil trotz des deutschen Sieges "das französische Kalkül aufgegangen" war, deutsche Kräfte im Osten zu binden, die bei der Marneschlacht im Westen fehlten (55).
Terence Zuber widmet sich den Bemühungen des deutschen Generalstabs, den erwarteten Zweifrontenkrieg zu bestehen. Dabei ist interessant, dass die Deutschen in nachrichtendienstlicher Kenntnis der englisch-französischen Generalstabsbesprechungen von 1907 und 1911 sowie der französischen Militärpublizistik von einer Kriegsbeteiligung Großbritanniens und Belgiens aufseiten der Entente ausgingen und auch mit einer italienischen Neutralität rechneten (43 f.). Offenbar aber hat diese Aussicht nicht zu Zweifeln geführt, ob das Reich einen Krieg unter diesem Umständen tatsächlich würde gewinnen können. Auch Zuber stellt die deutschen Siegeschancen nicht grundsätzlich infrage, zumal er sogar konstatiert, dass die deutsche Armee "den Feldzug in Frankreich nur um ein Haar verloren" habe (48). Zubers Darlegungen der strategischen Überlegungen bestätigen Groß' Aussage, wonach die Ostfront im militärischen Kalkül deutscher Militärs "nur ein Nebenkriegsschauplatz" war (2). Zudem bestätigen sie den defensiven Charakter der deutschen Planungen, womit die Angriffsthesen der Fischer-Schule nun endgültig zu historischen Annahmen werden.
Das Kontinuitätsproblem wird in mehreren Beiträgen thematisiert. Während Vejas Gabriel Liulevicius zu den Verfechtern der Kontinuitätsthese gehört und besonders auf die Erfahrungen deutscher Soldaten an der Ostfront rekurriert (295-310), betont Hans-Erich Volkmann, dass gegen eine Kontinuität aufgrund negativer Erfahrung vor allem die Begegnungen deutscher Soldaten mit Ostjuden sprächen, die "nicht selten als ein erfreuliches Ereignis" galten (278). Außerdem war Deutschland im Ersten Weltkrieg keineswegs die einzige Macht, die ein repressives Besatzungsregime errichtete, wie Jörg Baberowski und Piotr Szlanta in ihren Beiträgen mit Blick auf die Russifizierungsziele und die russische Besetzung Galiziens zeigen. Die intensive Diskussion deutscher Kriegsgreuel in Belgien und Nordfrankreich steht nach Ansicht von Rüdiger Bergien in einem starken Kontrast zu der Tatsache, dass die von Russen in Ostpreußen und die von Russen und der österreichisch-ungarischen Armee in Galizien begangenen Ausschreitungen kaum erforscht sind (399). Ausführlich und klug differenzierend widmet sich Bergien dem Kontinuitätsproblem. Er betont seine große Skepsis gegenüber Kontinuitätsbehauptungen und kritisiert zu Recht einen "Erfahrungsbegriff, der nachzeitig geformte Erinnerungen einer relativ kleinen Gruppe mit 'der' deutschen Erfahrung des Ostens gleichsetzt" und andere Elemente sowie den Wandel kollektiver Dispositionen nicht berücksichtigt (404).
Einen originellen Beitrag liefert Gundula Bavendamm, die mithilfe des von Maurice Halbwachs begründeten Konzepts des kollektiven Gedächtnisses sowie am Beispiel verschiedener Online-Portale zum Ersten Weltkrieg untersucht, inwiefern das Internet als internationales kollektives Gedächtnis taugt, gar "als Labor einer europäischen Erinnerungskultur" (388) angesehen werden kann. Die Ausgangsthese des Bandes, die Ostfront sei weitgehend vergessen, kann Bavendamm anhand ihrer Untersuchung bestätigen, denn die meisten Online-Angebote finden sich in englischsprachigen Ländern und behandeln überwiegend die Westfront. Während Museen und Gedenkstätten wie das Deutsche Historische Museum, das Imperial War Museum oder das Mémorial de Verdun wissenschaftlich fundierte Internetinformationen bieten, sind genuin wissenschaftliche Angebote rar. Das Internet ist bisher vor allem "eine Domäne der privaten Vereine und Amateurhistoriker" (390). Einen großen Vorteil des Internets sieht Bavendamm zu Recht in der "Möglichkeit zur Visualisierung von Erinnerungsorten" (191), um diese virtuell zu besuchen.
Einer "internetgestützten europäischen Weltkriegserinnerung" (391) sind jedoch, wie Bavendamm einräumt, Grenzen gesetzt. Zu sehr unterscheiden sich die nationalen Deutungen bestimmter Ereignisse und zu unterschiedlich sind die nationalen Schwerpunkte des Erinnerns gesetzt, wie gerade das Thema der Ostfront 1914/15 zeigt. Überhaupt beruht die Ansicht, es bedürfe einer 'europäischen' Sicht oder gar eines europäischen Geschichtsbuches, auf der unzutreffenden Annahme, nur eine international verbindliche Erinnerungskultur ermögliche eine ausgewogene Darstellung und zeige damit friedensstiftende Wirkung. Es wäre schon viel gewonnen, wenn man wenigstens - frei nach einem aktuellen Filmtitel - 'die Erinnerung der anderen' kennte. Dazu kann das Internet einen wertvollen Beitrag leisten.
Der umfangreiche Tagungsband leistet jedenfalls seinen Beitrag, weil er multiperspektivisch angelegt ist. Er fasst den aktuellen Forschungsstand fundiert zusammen und besticht auch dadurch, dass er kontroverse Ansichten erkennbar lässt und nicht den Anspruch einer abschließenden Darstellung erhebt, sondern offene Forschungsfelder benennt. Die Ostfront ist dem 'Vergessen' entrissen, das letzte Wort aber noch lange nicht gesprochen.
Steffen Bruendel