Ewald Frie: Das Deutsche Kaiserreich (= Kontroversen um die Geschichte), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004, VIII + 147 S., ISBN 978-3-534-14725-0, EUR 16,90
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Kontroversen sind die Grundlage wissenschaftlicher Arbeit - dieses Diktum stellen die Herausgeber der Reihe "Kontroversen um die Geschichte" ihrem Vorwort zu Ewald Fries Band "Das Deutsche Kaiserreich" voran. Zu Recht, denn kaum eine andere Epoche der jüngeren deutschen Geschichte hat in Bezug auf ihre Deutung so viele kontroverse Diskussionen ausgelöst - geschichtswissenschaftliche wie geschichtspolitische. Ziel der von Arnd Bauerkämper, Peter Steinbach und Edgar Wolfrum herausgegebenen Reihe ist die ausgewogene Präsentation und Diskussion wichtiger Forschungsprobleme, die nicht nur die Historiografie der zurückliegenden Jahrzehnte geprägt, sondern auch die Debatten der jeweiligen zeitgenössischen Öffentlichkeit mitbestimmt haben. Gemäß dem von den Herausgebern - mit Blick auf die aktuelle Einführung von Bakkalaureus- und Masterstudiengängen sicher nicht zu Unrecht - konstatierten "Bedürfnis nach einer schnellen Orientierung in komplizierten Sachverhalten" (VII) sollen eine problemorientierte Vermittlung von Forschungsergebnissen sowie ein prüfungspraktischer und didaktischer Darstellungsstil die Bände dieser primär an Studierende und Examenskandidaten gerichteten Reihe kennzeichnen. Nach der Weimarer Republik, der DDR und der Bundesrepublik werden die "Kontroversen um die Geschichte" mit dem nun vorliegenden Band zum Kaiserreich um ein wichtiges kontroverses Forschungsthema des 20. Jahrhunderts ergänzt.
Der Anspruch, systematische und präzise Informationen zur Historiografie des Kaiserreichs zu liefern, ist hoch angesichts der extrem umfangreichen Literatur. Ewald Frie, Hochschuldozent an der Universität Duisburg-Essen und mit verschiedenen Publikationen zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ein Kenner der hier behandelten Epoche, hat sich diesem Anspruch gestellt. Er folgt in seiner Gliederung dem für alle Bände vorgegeben einheitlichen Prinzip und beginnt mit einer Einleitung, in der einige Merkmale der behandelten Epoche sowie traditionelle und aktuelle geschichtswissenschaftliche Deutungen umrissen werden (1-16). Es folgt ein kurzer "Überblick" (17-20), in dem Frie die Auswahl der von ihm behandelten acht Deutungskontroversen begründet, die im folgenden Hauptteil des Buches ("Forschungsprobleme", 21-117) dargestellt werden. Im letzten Kapitel ("Ausblick", 118-123) fasst Frie Entwicklung und Perspektiven der Forschung kurz zusammen und ordnet das Kaiserreich ein in die deutsche Geschichte.
Im Kapitel "Forschungsprobleme" hat Frie nicht allgemeine Problemfelder, sondern "benennbare Diskussionspunkte" ausgewählt, Kontroversen, die "bedeutsam" seien, weil sie zum Beispiel über die Fachwissenschaft hinausreichten oder weitere Forschungen angestoßen hätten (18) und zudem einen Überblick "über die Geschichte und über die Geschichtsschreibung" zum Kaiserreich ermöglichten (19). Er hat die von ihm ausgesuchten Forschungskontroversen "chronologisch gereiht nach dem inhaltlichen Gegenstand, auf den sie sich beziehen" (19). Mit dem Jahr 1866 beziehungsweise der Frage nach Alternativen zur Reichsgründung (21-31) beginnt Frie. Es folgen die Probleme der so genannten "Inneren Reichsgründung" (31-43), der Bismarckschen Kolonialpolitik (43-56), des nicht verlängerten Rückversicherungsvertrages (56-69), der Rolle Kaiser Wilhelms II. (69-81) und der Kriegsschuldfrage ("Fischer-Kontroverse", 81-94). Ferner präsentiert Frie die Forschungsdebatten über "Sozialmoralische Milieus" (94-108) und skizziert in diesem Zusammenhang die Rolle der Sozialdemokratie und des Zentrums sowie die Kontroverse über die Reformfähigkeit des Reiches. Schließlich entfaltet Frie die komplexe Frage nach der Modernität des Kaiserreichs (108-117), einschließlich der für Geschichtswissenschaft wie -politik wichtigen Sonderwegsdebatte.
In übersichtlich strukturierten und gut lesbaren Längsschnittanalysen stellt Frie die jeweiligen Kontroversen kenntnisreich dar und ermöglicht dem Leser, jahrzehntelange Entwicklungen nachzuvollziehen. Frie gelingt die Einordnung der Debatten in den zeithistorischen Kontext, vor dem sie entstanden und aus dem heraus sie sich entwickelten. Durch "exemplarische Erzählung" will er "Trends und Ergebnisse der Kaiserreichsforschung der letzten einhundert Jahre" aufzeigen und damit zugleich die Geschichte sowohl der Geschichtsschreibung des Kaiserreichs als auch die des Kaiserreichs selbst (20). Dies gelingt ihm, indem er die Kontroversen geschickt an Exponenten der Geschichtswissenschaft festmacht - beispielsweise Schnabel-Ritter, Fischer-Ritter, Röhl-Mommsen, Wehler-Evans -, sie gleichsam personalisiert und dadurch veranschaulicht. Präzise referiert Frie die Stellungnahmen seiner Protagonisten, und einfühlsam, zuweilen auch ironisch, kommentiert er ihre Schlagabtausche, etwa wenn er schreibt: Hans-Ulrich Wehler müsse "wütend gewesen sein", als er seinem englischen Gegenspieler Geoff Eley 1981 vorwarf, "mit einem erklecklichen Fundus der sprichwörtlich ewig besserwisserischen, altertümlichen englischen Arroganz ausgestattet" zu sein (108).
Frie bezeichnet das Kaiserreich treffend als "Verdichtungsraum politischer, sozialer, kultureller und ökonomischer Problemlagen" sowie als "Bezugspunkt nationaler und staatlicher Selbstbeschreibung der Deutschen" (17). Beides sei von jeder neuen Historikergeneration und Historikerschule in einem konfliktiven Prozess immer wieder neu gewichtet worden. Einige kontroverse Neujustierungen systematisch und präzise dargelegt zu haben, ist Fries Verdienst. Bei einem solchen Vorhaben muss vieles zwangsläufig oberflächlich behandelt, manches sogar ausgelassen werden. So vermisst man beispielsweise Abhandlungen zum "Neuen Kurs" Wilhelms II., einschließlich Flottenrüstung und Kolonialpolitik, zu Antisemitismus und Minderheitenfragen und zum - nur in der Einleitung gestreiften - Problem der gesellschaftlichen Militarisierung. Auswahl heißt jedoch immer auch Beschränkung. Die an der Konzeption der Reihe und einigen Bänden geäußerte Kritik, die Einzeldarstellungen der historischen Debatten blieben mager und würden nicht kontextualisiert [1], trifft hier nicht zu. Zuzustimmen ist nur der Beanstandung, dass - entgegen dem Anspruch - der Gegenstand selbst, in diesem Falle das Kaiserreich, in den Hintergrund gerät, das heißt die den Kontroversen zugrunde liegenden Fakten zu kurz kommen. Dass aber eine Einführung weitere Lektüre nötig macht, haben Einführungen so an sich. Frie jedenfalls ist es gelungen, wichtige Kontroversen knapp und klar darzustellen und dabei auch den Zusammenhang mit den verschiedenen Generationswechseln innerhalb der Historikerzunft herauszuarbeiten.
In seinem letzten Kapitel, das weniger ein "Ausblick" denn Zusammenfassung und Resümee ist, konstatiert Frie eine "Normalisierung" in Bezug auf die Deutung des Kaiserreichs, weil es mittlerweile "aus seiner zentralen Rolle für das geschichtliche Selbstverständnis der Deutschen entlassen" worden sei (123). Vom "nationalen Problemfall, der Forschungsfragen hervorruft", sei es zu einem Gegenstand geworden, "anhand dessen Forschungsfragen behandelt werden" (121). Zu Recht plädiert er dafür, das Kaiserreich künftig vergleichend zu untersuchen und Beziehungsgeschichten und Transfers zwischen Nationen, Kulturen und Regionen zu berücksichtigen, denn dadurch verlören "[m]anche negativen Urteile über das Kaiserreich [...] an Überzeugungskraft" (122). Bei genauerer Betrachtung sähe man "nicht eines, sondern viele Deutschländer" (James Retallack). Weil Frie am Beispiel der acht Forschungskontroversen zur Offenheit für verschiedene Fragestellungen anregt und über vielfältige Interpretationen informiert, ist das Buch der Zielgruppe zu empfehlen, und zwar als kompakte Darstellung nicht so sehr der Geschichte des Kaiserreiches, sondern von zentralen Forschungsdiskussionen zu jener Epoche.
Anmerkung:
[1] Uwe Goppold: Rezension zu: Stefan Ehrenpreis / Ute Lotz-Heumann: Reformation und konfessionelles Zeitalter. Darmstadt 2002, in: H-Soz-u-Kult, 18.04.2003, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-2-041; Vgl. auch Johannes Süßmann: Rezension von: Stefan Ehrenpreis / Ute Lotz-Heumann: Reformation und konfessionelles Zeitalter, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 9 [15.09.2003], URL: http://www.sehepunkte.de/2003/09/1327.html.
Steffen Bruendel