Christiane Kunst: Römische Adoption. Zur Strategie einer Familienorganisation (= Frankfurter Althistorische Beiträge; Bd. 10), Frankfurt/Main: Buchverlag Marthe Clauss 2006, 351 S., ISBN 978-3-934040-07-6, EUR 58,00
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Die römische Geschichte beginnt mit einer Kindsannahme: Nachdem Romulus und Remus ausgesetzt worden waren, fanden sie zunächst einen Elternersatz in einer Wölfin, bevor sie durch den Hirten Faustulus und dessen Frau aufgenommen wurden. Die im Mythos rechtlich ungeklärte Form der Adoption entwickelte sich in der Republik zu einer der wichtigsten Strategien der Familienplanung und -organisation, der sich C. Kunst in ihrer Monographie widmet. Ziel der Verfasserin ist es, die römische Adoption nicht allein im rechtlichen, sondern "in ihrem sozialen Kontext zu beleuchten" (14) und die "ideelle und symbolische Kapazität der Adoption" (29) systematisch zu analysieren und sozialhistorisch einzuordnen. Der Rahmen umfasst zeitlich das 2. Jh. v.Chr. bis zum 3. Jh. n.Chr. und geographisch den römischen Westen und Ägypten.
Die Studie gliedert sich in vier Teile: Nachdem in der Einleitung (13-34) die Verfahrensformen der arrogatio, also der Kindsannahme eines eigenrechtlichen Römers, und der adoptatio, der Annahme eines in potestas Stehenden, erläutert wurden, umreißt Kunst Quellenlage und Forschung und stellt ihre Konzeption vor. Sie strebt nicht nur eine Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung der Adoption an, sondern auch der nicht rechtskonformen 'Quasiadoptionen sowie der Konfliktfelder, die sich aus den Adoptionsverfahren - etwa bei Eingriffen des Kaisers - ergaben.
Der erste Teil behandelt das Vorfeld des eigentlichen Rechtsakts und zeigt "Adoptionsprofile" (35-80) auf, worunter Motive, Ziele und Kandidaten gefasst werden. Kunst weist auf die Problematik von Kinderlosigkeit aufgrund hoher Mortalitätsraten und bewusster Familienbegrenzung hin, auch wenn die Argumentation, das Prinzip der Primogenitur sei aufgrund mannigfaltiger Verhütungsmethoden obsolet (38), nicht immer überzeugt. Stattdessen wäre danach zu fragen gewesen, welche sozialen Strategien in der Republik der erbrechtlich angelegten Diffusion von Vermögen und in der Kaiserzeit dem Verzicht auf Kinder zugrunde lagen. Als Motiv der Elite führt Kunst den Wunsch zur sozialen Reproduktion mit sozial akzeptablen Adoptanden aus (48-52); daneben werden die Bereiche der Alters- und Kinderversorgung, Erbensicherung, Erbschaftserwerb, die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse sowie der gegenseitigen Versicherung zweier Familien durch personalen Austausch verwiesen. Kunst spricht dabei der Adoption eine stärkere Tragfähigkeit zu als der Ehe, da diese nicht durch Scheidung gefährdet war (60). Davon ausgehend behandelt sie (63-80) die Adoption als Alternativstrategie zur Ehe - gar als Korrektiv, um personale Verbindungen aufzubauen, die durch die römischen Heiratsverbote ausgeschaltet waren (73f.); die möglichen Funktionen dieser Verbote bleiben unbehandelt.
Der zweite Teil betrifft die historische Entwicklung der Adoption von der Republik bis in die Kaiserzeit. Die komplizierte Handhabe der älteren arrogatio unter Aufsicht der comitia curiata weist nach Kunst darauf hin, wie sorgsam die Veränderung von Verwandtschafts- und damit einhergehend Eigentumsverhältnissen observiert wurde, da schwächere Personenverbände in mächtigere eingehen konnten. Arrogatio stellte demnach ein "gesellschaftliches Amalgamierungskonzept" (90) dar, das aber selten Anwendung fand. Erst während der Punischen Kriege bot die arrogatio ein Mittel, nicht nur kinderlose Eltern, sondern vor allem elternlose Kinder zu versorgen, so dass die Praxis insbesondere im 2. Jh. Anwendung fand, später dagegen als politisches Instrument - wie durch P. Clodius - eingesetzt wurde. Der arrogatio wurde im 4./3. Jh. die adoptatio alternativ zur Seite gestellt; nicht mehr die Comitien sanktionierten den Vorgang, sondern zwei patres regelten die Kindsannahme, die nun - so Kunst - als familiale Praxis etabliert wurde, die Heiratsverbote zu umgehen und politische Allianzen zu festigen (100-1). Durch den Austausch von Söhnen wurde weiterhin Prestige und Vermögen konzentriert, so dass Adoptivsöhne in der Regel erfolgreicher als ihre Adoptivväter waren (103). Ende der Republik wurde mit der Testamentsadoption ein Sonderweg beschritten, der in der Kaiserzeit zunehmend das Erbe regeln und den Namen weitergeben sollte; Kunst beschreibt diese Form als "rituelle Verwandtschaft" - ohne den Begriff zu präzisieren -, die "die Wirkung [von Adoption] imitierte" (121).
Im dritten Teil legt Kunst eine "Typologie der Adoption" vor; die Trennlinie verläuft dabei zwischen Adoptionen innerhalb (131-148) und außerhalb der Familie (149-170), wobei Kunst zwischen "Politischen Adoptionen" und den "Weggefährten", die als spezielle Gruppe gefasst werden, denen aber auch politische Motive zugewiesen werden, differenziert. Aufstrebende Aristokraten der späten Republik sahen darin ein Instrument, einen "politischen Vorteil" (151) zu sichern und sich etwa für bestimmte Ämter zu qualifizieren (152-161). Der Hauptanteil der Adoptierten stammt jedoch aus der Verwandtschaft des Adoptierenden; da Kunst die Typen z.T. an nur einem Beispiel bzw. sehr diversen Fällen festmacht, stellt sich die Frage, inwieweit die Ergebnisse generalisierbar sind.
Der letzte und umfangreichste Abschnitt widmet sich "Konflikten" (171-289), die etwa bei Verdacht auf Erbschleicherei oder politischem Vorteil auftreten konnten. Staatliche Ordnungsinstanzen der Republik wurden in der Kaiserzeit durch Reskripte ergänzt, wobei die arrogatio von impuberes wie auch von Frauen der Regelung bedurfte (179-193). Statuskonflikte entstanden bei der Adoption von Sklaven bzw. Freigelassenen, die dadurch den Stand wechselten (195-214). Kunst behandelt weiterhin die Fälle adoptierender Frauen, die rechtlich dazu nicht befugt waren (214-231); hierin wie in der Behandlung "volksrechtlicher Adoptionen" (231-247) zeigt sich die problematische Durchsetzung sozialer Praxis gegen rechtliche Norm. Deutlich wird dabei die Heterogenität des Rechtsraums Imperium Romanum, in dem lokal-, volks- und römischrechtliche Regelungen neben- bzw. gegeneinander traten - etwa bei Quasiadoptionen von Pflegekindern (257-265) in den Provinzen. Ein letztes Konfliktfeld ortet Kunst in der Familie selbst (265-289), wenn der pater familias durch Adoption den Kreis der Erben erweiterte (267) und somit "rituelle" gegen biologische Verwandtschaft (285) ausspielte.
Zusammenfassend konstatiert Kunst, dass die Rechtsform der adoptio als Reaktion auf die Monopolisierung der arrogatio durch die Patrizier zu sehen ist, um Familien und deren Prestige zu erhalten. Innerfamiliäre Adoption wird als Zeichen innerfamiliärer Loyalität bei Umgehung der Heiratsverbote gewertet und "zur Festigung politischer Bündnisse parallel zur Ehe eingesetzt", wobei "längerfristig angelegte Loyalitätsmuster" begründet wurden (293). Adoption war damit ein "Modul der Gruppenkonstituierung der Elite" (293); die strenge Kontrolle erklärt Kunst aus der Verschiebung von patria potestas, womit nicht nur ein rechtlicher Anspruch, sondern auch ein sozialer verbunden war, dass ein Sohn "die soziale Rolle des Vaters nach seinem Tod" übernehme, ihn - etwas nebulös - "als Person perpetuiere" (294). Mit Ausblick auf die Entwicklung im Mittelalter unter Einfluss des Christentums stellt Kunst abschließend fest, dass sich der Vaterbegriff von einer rechtlichen auf eine soziale, auf die Blutverwandtschaft orientierte Beziehung verenge, die Adoption damit als alternative Strategie zur Organisation der Familie an Bedeutung verlor (299).
Kunst hat eine ambitionierte Studie zur römischen Adoption vorgelegt, die sich nicht auf das Rechtsinstitut beschränkt, sondern die gesellschaftliche Bedeutung, Entwicklung und die sozialen Konfliktfelder im Kontext dieser Familienstrategie aufzeigen will. Die Studie öffnet den Blick auf ein Desiderat der Forschung zur römischen Familienorganisation und Sozialgeschichte. Die Arbeit wird damit den Ausgangspunkt für weitere Studien auch wegen ihres Materialreichtums bilden. Jedoch ist handwerkliche Kritik zu äußern: Es finden sich prosopographische und Zitationsfehler [1]: So ist der Adoptivvater des Scipio Aemilianus amtlos gewesen, was auffällt, wenn dessen Prätur zur Datierung für die Adoption herangezogen wird (142). Plautus und Terenz werden als Beleg für die Adoptionspraxis der mittleren Republik herangezogen; die Problematik der Autoren wird allenfalls angerissen (56 Anm. 137), ansonsten werden beide ohne Diskussion etwaiger griechischer Vorbilder angeführt (vgl. 49 Anm. 157; 186; 281). Ähnlich verwundert der Verweis auf griechische Autoren wie Hesiod, Demokrit, Theophrast, Platon (36 Anm. 9; 64; 71; 194) und Verhältnisse (Rhodos: 174) zur Klärung (stadt)römischer Fragen; wiederum andere Belege unterstützen nicht die Argumentation: So zeigt Tacitus' Verweis auf die Ehe des Claudius mit seiner Nichte gerade nicht die allgemeine Akzeptanz einer endogamen Ehe auf (100 Anm. 123). Angerissen bleibt die Diskussion um die problematische Adoption des Brutus (136, 158); in anderen Fällen (100 zur Kreuzcousinenheirat) wird die Forschungsdiskussion aufgezeigt, die Position der Autorin bleibt jedoch unklar. Die Regellosigkeit bei Zitatübersetzungen stört und gestaltet die Lektüre für den nicht fach- und sprachkundigen Leser schwierig. An diesen ist ein Glossar der antiken Begriffe gerichtet, das dem Fachkundigen wiederum unnötig erscheint - will man nicht über die Definition der domus als "Haus der Vornehmen im physischen wie genealogischen Sinn" (337) streiten. Leserfreundlichkeit wie Argumentationsführung werden zudem erschwert, da konzise Zusammenfassungen der Kapitel fehlen; diese wären wünschenswert, um den Leser den Erkenntnisstand und -fortschritt zu verdeutlichen, so bleibt es jedem selbst überlassen, Fragestellungen zu formulieren und Zwischenfazits zu ziehen, wodurch wichtige Ergebnisse zu verblassen drohen.
Anmerkung:
[1] Vgl. die falsche Zitation von J. Martin: Der Wandel des Beständigen. Überlegungen zu einer Historischen Anthropologie, Freiburger Universitätsblätter 33 (126), 1994, 35-46. Vgl. Liv. 2,1 (299 Anm. 14) als Beleg für die Bedeutung der patria potestas in der Kaiserzeit.
Ann-Cathrin Harders