Rezension über:

Jens Jäger: Verfolgung durch Verwaltung. Internationales Verbrechen und internationale Polizeikooperation 1880-1933, Konstanz: UVK 2006, 424 S., ISBN 978-3-89669-568-0, EUR 44,00
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Rezension von:
Carsten Dams
Dokumentations- und Forschungsstelle für Polizei- und Verwaltungsgeschichte, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Carsten Dams: Rezension von: Jens Jäger: Verfolgung durch Verwaltung. Internationales Verbrechen und internationale Polizeikooperation 1880-1933, Konstanz: UVK 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 10 [15.10.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/10/10416.html


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Jens Jäger: Verfolgung durch Verwaltung

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Jede Medaille hat bekanntlich zwei Seiten. Die internationale Verflechtung und zunehmende Mobilität der europäischen Gesellschaften seit Ende des 19. Jahrhunderts hatte nicht nur positive Effekte, sondern führte zu einer veränderten Kriminalität. Zwar hielt sich die Kriminalität auch zuvor nicht unbedingt an Ländergrenzen, wenn man beispielsweise an die Banden des frühen 19. Jahrhunderts denkt, aber sie gewann eine neue Dimension, zumindest im kriminologischen und kriminalistischen Diskurs. Jäger geht es in seiner Kölner Habilitationsschrift weniger um die tatsächliche Kriminalität, sondern um die Vorstellungswelt der Kriminalisten, die entscheidend für die Verstetigung der internationalen Polizeikooperation war. Hier liegt die Stärke und Schwäche seiner Studie zugleich: Präzise und eindringlich gerät die Darstellung und Analyse der mitunter diffusen Ideen der Kriminalisten. Die tatsächliche Kriminalität wird von Jäger hingegen nicht in gleicher Weise berücksichtigt, sodass unklar bleibt, welche Bedeutung ihr in der Praxis tatsächlich zukam. Jäger suggeriert, dass es sich mehr oder minder um Ängste handelte, die keine Entsprechung in der Wirklichkeit hatten. Ob dies tatsächlich so war, muss jedoch vorerst offen bleiben und bedarf weiterer eingehender Studien.

Die Arbeit gliedert sich in zwei große chronologische Teile: Die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg und die Jahre danach bis zum Ende des Untersuchungszeitraums. Im ersten Teil analysiert Jäger ausführlich den kriminologischen Diskurs des ausgehenden 19. Jahrhunderts: Ausgehend von den frühen deliktspezifischen Kooperationen, beispielsweise bei den so genannten Moraldelikten wie Mädchenhandel, Pornografie und Opium, schildert er die Genese des internationalen Verbrechers. Dieser Delinquententypus wurde von Juristen, Kriminologen und Praktikern gemeinsam als eine Art 'idealer' Verbrecher angesehen: Er wandte moderne Methoden an, war professionell, handelte rational und entsprach somit durchaus den zeitgemäßen bürgerlichen Denkkategorien. Da er diese jedoch mit seiner kriminellen Energie gleichzeitig bedrohte, war der internationale Verbrecher somit der Gegentypus zur sich formierenden modernen bürgerlichen Gesellschaft. Da die Kriminalpolizei deliktspezifisch arbeitete, ergab sich hieraus die Idee einer Kategorisierung der Verbrecherwelt. Analog zur bürgerlichen Gesellschaft galten die internationalen Verbrecher, vor allem Hochstapler und Hoteldiebe, als die Elite der Unterwelt.

Jägers Untersuchung - und dies ist ein großes Verdienst - ist komparativ angelegt und berücksichtigt neben deutschen Quellen Archivbestände aus England, Frankreich, Österreich und den Niederlanden. Hierdurch kann Jäger zeigen, dass sich die verschiedenen kriminalpolizeilichen Apparate trotz aller länderspezifischen Unterschiede weitgehend gleichzeitig entwickelten. Deutlich wird dies vor allem an der Einführung der neuen Techniken Fotografie und Anthropometrie (199-211). Der Erste Weltkrieg beendete die internationale Zusammenarbeit, zumindest zwischen den Alliierten und den Mittelmächten. Doch kurze Zeit nach Kriegsende wurden die alten Kontakte wieder aufgenommen. Die Experten erwarteten, dass sich die Kriminalität ändern würde: Zum einen wurde die Kriegserfahrung als "Schule des Verbrechens" (260) gesehen. Zum anderen erwartete man durch den technischen Fortschritt eine qualitative Veränderung der Verbrechen. Insgesamt befürchtete die Polizei schwierigere Zeiten bei der Bekämpfung der Kriminalität - und dies galt insbesondere für das internationale Verbrechertum.

Eine Verstetigung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit wurde dann 1923 durch die Einrichtung der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission (IKPK) erreicht. Anlässlich des Wiener Polizeikongresses kam es zur Gründung dieser Institution, die zunächst ein Verein von Einzelpersonen war. Alle anfallenden Kosten wurden von der Wiener Polizeidirektion übernommen. Mit der Gründung der IKPK kam es jedoch zu keiner wirklichen Internationalisierung bei der Fahndung nach flüchtigen Tätern. Diese Zahlen blieben gering. Vielmehr verstetigten sich die Verbindungen zwischen den einzelnen Mitgliedern, die verschiedene Fachtagungen festigten. Tagungen und Publikationen der Mitglieder waren denn auch der Raum, in dem sich die IKPK überwiegend bewegte.

Jäger schließt seine Studie mit einem Epilog, der die Geschichte der IKPK bis 1945 schildert. Die 'Machtergreifung' und der neue politische und kriminalpolitische Kurs in Deutschland führten keineswegs zum Ende der internationalen Zusammenarbeit. Mit dem 'Anschluss' Österreichs und der Ernennung Otto Steinhäusels zum Wiener Polizeipräsidenten fiel die IKPK in nationalsozialistische Hände. Nach seinem Tode im Jahr 1940 wurde Reinhard Heydrich der Präsident der IKPK. Im Jahr 1941 wurde dann der Sitz der IKPK von Wien nach Berlin verlegt. Dort verblieb er bis zum Kriegsende. Nach einer Wiederbelebung 1946 und weiteren Zwischenschritten wurde dann aus der IKPK eine Institution, die heute deutlich bekannter ist: Interpol. Alles in allem ist die Studie von Jäger ein Gewinn: Er erweitert auf breiter Quellen- und Literaturbasis die bisherige nationalgeschichtlich orientierte Polizeigeschichtsforschung um die internationale Komponente.

Carsten Dams