Jens Jäger: Das vernetzte Kaiserreich. Die Anfänge von Modernisierung und Globalisierung in Deutschland, Stuttgart: Reclam 2020, 259 S., 4 Kt., 9 s/w-Abb., ISBN 978-3-15-011304-2, EUR 22,00
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Die jüngste Kontroverse über das Kaiserreich wurde von Büchern ausgelöst, die dessen Ort in der deutschen Geschichte zu bestimmen suchen [1]. Die vorgetragenen Deutungen sind nicht neu und weiterhin strittig. Festgelegt werden sie von der Perspektive, in der man das, was im Kaiserreich an positiven oder negativen Entwicklungspotentialen angelegt war, auf die Gegenwart zulaufen lässt. Die "Vetomacht der Quellen" (R. Koselleck) greift hier nicht, solange man der gewählten Perspektive eine gewisse Plausibilität nicht absprechen kann. Jäger hingegen meidet die Frage nach den langen Geschichtslinien und bietet stattdessen einen ungewohnten Blick auf das Kaiserreich in dessen Zeit. Es in globalen Bezügen zu sehen ist zwar nicht neu [2], doch Jäger wählt mit 'Vernetzung' und 'Austausch' Beobachtungspunkte, die den Blick gleichermaßen nach innen und nach außen lenken. So können Nationsbildung und Heimatbewegung ebenso betrachtet werden wie internationaler Handel und grenzüberschreitende Kooperationen von Strafverfolgungsbehörden. Die Leitfrage nach Vernetzungen und Austauschprozessen im Innern und nach außen nimmt Interessen unserer Gegenwart auf, ohne die damalige Gegenwart in ein Prokrustesbett der Nachgeschichten zu zwängen.
Die zentralen Begriffe, die der Titel aufruft - Vernetzung, Modernisierung, Globalisierung -, werden nicht theoretisch begründet, doch was gemeint ist, konkretisieren die sieben Kapitel jeweils an den Themenbereichen, die betrachtet werden. Dass so ein breiteres Publikum angesprochen werden kann, ist dieser Gesamtdarstellung, die sich dem Üblichen entzieht, zu wünschen.
Bereits das erste Kapitel "Wer und was gehörte zum Kaiserreich?" verdeutlicht, dass "vernetzt" sich auf Voraussetzungen für intensive Wechselbeziehungen bezieht, beginnend mit der geographischen Lage Deutschlands, die einen "Austausch von Menschen, Gütern und Ideen begünstigte." (31) Darauf werden auch Bevölkerungswachstum und Verstädterung, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen befragt. Während die politische Ordnung im Deutungsstreit um das Kaiserreich dominiert, tritt sie bei Jäger in den Hintergrund. Schade, dass er sie nicht in der gleichen Weise wie die anderen Bereiche hinsichtlich Vernetzung und Austausch untersucht.
Kommunikation und Medien sind zwei Stränge, die sich durch das gesamte Buch ziehen. Im 2. Kapitel "Unterwegs im Kaiserreich und in der Welt" werden die Grundlagen gelegt: Übersee- und Binnenschifffahrt, Eisenbahnen, Busse und "Siegeszug des Fahrrads" (74), Post, Telegramm und Telefon werden quantitativ und auch in ihrer Bedeutung für den Alltag der Menschen vorgestellt. All diese Bereiche werden im Kapitel 5 zur deutschen Kolonialpolitik wieder aufgenommen und darauf befragt, wem diese Verkehrsmittel und Kommunikationswege nutzten und wem nicht. So wird Kolonialismus als eine "besondere Form der internationalen Verflechtung, die auf Zwang beruht" (171), konkretisiert, und es werden auch ihre Grenzen sichtbar. Es habe in Deutschland "kein dauerhaftes oder intensives Interesse an den eigenen Kolonien" (191) gegeben. Die imaginären Abenteuerreisen eines Karl May mieden die deutschen Kolonien ebenso wie es Wilhelm II., "Deutschlands bekanntester Reisender" (194), getan hat. "Über die tatsächlichen Verhältnisse in den deutschen Kolonien wußten [...] nur wenige etwas." (194) Ob sich das änderte, als im Reichstag die desaströse deutsche Kriegführung in Afrika kritisch diskutiert wurde und viele Zeitungen darüber berichteten, erörtert Jäger nicht.
Kapitel 4 "Internationalisierung, Nationsbildung und Heimatbewegung" ist darauf angelegt zu zeigen, dass "sich globale, nationale und lokale Prozesse nicht voneinander trennen lassen." (136) Ob aber das "Kaiserreich als Nationalstaat und nationale Gemeinschaft" in erster Linie "medial erfahrbar" (159) gewesen ist? Die Medien waren im Prozess der Nationsbildung zweifellos wichtig, aber die Vielfalt der Vernetzungen im nationalstaatlichen Raum, die auch in diesem Kapitel eingehend vorstellt werden, ging doch darüber hinaus. [3]
Zentral für Jägers Blick auf das Kaiserreich ist das Kapitel 3 "'Extrablatt' - Die Geburt der modernen Mediengesellschaft". Sie ermöglichte "neue Formen der Vernetzung und Gruppenbildung" (103). Auch hier, wie in dem gesamten Buch, geht es vornehmlich um Voraussetzungen für eine 'vernetzte' Gesellschaft. Zu ermitteln, welche Möglichkeiten die Einzelnen nutzten, ob sie sich eher lokal, regional oder national, europäisch oder über Europa hinaus informierten, würde andere Zugänge zu den damaligen Lebenswelten erfordern.
Wie "Transnationale Kooperation" (Kapitel 6) gesellschaftliche und staatliche Organisationen durchzog, analysiert Jäger an der Frauenbewegung und an den Akteuren der Strafverfolgung. Kriminaltechnische Standardisierung geschah im grenzüberschreitenden Austausch unter den Fachleuten. Insbesondere der Fingerabdruck wurde, ausgehend von der Londoner Kriminalpolizei, in den letzten beiden Jahrzehnten vor dem I. Weltkrieg im engen Austausch untereinander in Europa, Nord- und Südamerika eingeführt. Internationale Expertenkreise diskutierten nicht nur kriminaltechnische Verfahren, es kam auch zu personellem Austausch, wenn etwa englische Kriminalbeamte in Hamburg stationiert wurden, um bei der Fahndung nach irischen 'Terroristen' zu helfen.
Im Schlusskapitel "Modern, weil vernetzt? Das Kaiserreich um 1900" zieht Jäger eine ambivalente Bilanz. "Der nolens volens vernetzte Mensch im Kaiserreich sah sich zunehmend in globale Zusammenhänge eingeordnet." (242) Der politische Horizont weitete sich, die Abwehr allerdings auch. Denn "Vernetzung und transnationaler Austausch" (244) förderten auch radikale Gegenbewegungen. 'Modern' ist für den Autor offensichtlich ein Wertbegriff. Modernitätsverweigerer versteht er nicht als 'modern', auch wenn sie das moderne Instrumentarium der Vernetzung nutzten.
Jägers Buch wendet sich an einen weiten Leserkreis, doch auch die Fachleute, die sich um den Ort des Kaiserreichs in der deutschen Geschichte streiten und es konträr bewerten, sollten es zur Kenntnis nehmen.
Anmerkungen:
[1] Ein fairer Überblick bei Claudia Gatzka: »Das Kaiserreich« zwischen Geschichtswissenschaft und Public History, in: Merkur 866 (2021), 5-15.
[2] Nicht erwähnt wird von Jäger eines der besten Werke dazu: Cornelius Torp: Die Herausforderung der Globalisierung. Wirtschaft und Politik in Deutschland 1860-1914 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; 168), Göttingen 2005.
[3] Die beste Studie dazu fehlt in dem knappen Literaturverzeichnis: Siegfried Weichlein: Nation und Region. Integrationsprozesse im Bismarckreich (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; 137), Düsseldorf 2004.
Dieter Langewiesche