Klaus Hentschel: Die Mentalität deutscher Physiker in der frühen Nachkriegszeit (1945-1949) (= Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte; Bd. 11), Heidelberg: Synchron 2005, 191 S., 12 Abb., ISBN 978-3-935025-80-5, EUR 24,80
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Mit seiner Arbeit über die Mentalität deutscher Physiker nach dem Zweiten Weltkrieg, die 2007 auch auf Englisch erschienen ist, reiht sich Klaus Hentschel in eine Reihe von Werken ein, die sich in den letzten Jahren mit dem Verhalten deutscher Naturwissenschaftler in der Zeit des Nationalsozialismus befasst haben. [1] Da sein Augenmerk jedoch auf der unmittelbaren Nachkriegszeit liegt, schlägt er hiermit auch eine Brücke zu den Veröffentlichungen über Entnazifizierung, Umerziehung und Demokratisierung in Deutschland nach 1945. [2]
Der Autor setzt sich dabei zum Ziel, zu einer möglichst werturteilsfreien Analyse der zeittypischen Mentalität zu gelangen (10), wobei eine schärfer umrissene Definition des Begriffs "Mentalität" hilfreich für das Verständnis wäre. Was nun die neutrale Betrachtung anbelangt, kann man geteilter Meinung sein. Zum einen sind viele Aussagen durchaus wertend, was bereits aus Kapitelüberschriften wie "Verdrängung", "Scham" oder "Selbstmitleid" ersichtlich wird. Andererseits beruft sich Hentschel in diesen Aussagen neben älteren Werken zur Mentalitätsgeschichte (18) vor allem auf seine Quellen, so dass sie für den Leser nachvollziehbar werden. Die Quellenkritik ist ebenfalls recht ausführlich (20), besonders zu den untersuchten Zeitschriften und Mitteilungen. Zur getroffenen Auswahl der verwendeten Nachlässe wäre eine genauere Begründung jedoch wünschenswert gewesen.
Obwohl das Buch insgesamt klar strukturiert ist und inhaltlich einem logischen Konzept folgt, fehlt leider eine klare äußere Gliederung, die dem Leser den Zugang zu dieser Studie erleichtert hätte. In den ersten Kapiteln seines Werkes beleuchtet Hentschel das Verhältnis der deutschen Physiker zu den Alliierten. Dabei geht er ebenso auf die äußeren Lebensumstände, sprich den allgegenwärtigen Mangel und seine Auswirkungen auf das wissenschaftliche Arbeiten, wie auf die Unterschiede zwischen den Westmächten und der sowjetischen Besatzung ein. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die weit verbreitete Ablehnung des Prozesses der Entnazifizierung, die zum Teil als Farce verstanden wurde, welche die wahren Täter nicht wirklich treffen würde (46), andererseits aber auch dem Denunziantentum Tür und Tor öffnete (37ff.). Das belastete das Verhältnis zu den Besatzungsmächten zusätzlich, da es den ebenso nahe liegenden, wie auch unzulässigen Vergleich zu den Methoden des Nationalsozialismus provozierte (43).
Es wird deutlich, wie die "offizielle" alliiertenfreundliche Haltung oftmals nur schlecht verborgene Ressentiments überdeckte. Den möglichen Ursachen für diese Abwehrhaltung geht Hentschel ebenfalls nach und sieht sie zum einen in einer allgemeinen Verbitterung über die Isolation aus der internationalen Forschungsgemeinschaft begründet, die bereits unter den Nazis stattgefunden hatte und nun nicht, wie offenbar erhofft, sofort beendet worden war (71). Außerdem verstärkte das mehr oder minder freiwillige Auswandern von Wissenschaftlern ins Ausland diese Angst vor fachwissenschaftlicher Isolation und geistigem Stillstand im eigenen Land.
Ein weiterer Punkt, der dabei zu Tage tritt, ist die demokratiefeindliche Struktur der deutschen Universitäten, die sich nicht nur an den mehr oder minder belasteten Persönlichkeiten der Lehrenden festmachen lässt. Vielmehr scheint es die Angst vor Einmischung in die traditionsreiche, hierarchisch gegliederte Ordnung gewesen zu sein, die vielerorts dazu führte, dass ansonsten "neutrale" oder unbelastete Verantwortliche eine schützende Hand über von Entlassung bedrohte ehemalige Nazis hielten. Hentschel stellt dabei auch heraus, wie sich bereits hier, über 20 Jahre vor den so genannten Studentenunruhen, eine Kluft zwischen Studierenden und Lehrenden zu bilden begann (73).
Den größten Teil seiner Arbeit widmet Hentschel jedoch dem kollektiven Umgang mit der Schuldfrage. Detailliert unterscheidet er zwischen unbewusstem Verdrängen (96), absichtlichem Täuschen und dem Versuch, die Schuld von sich auf andere abzulenken, etwa indem Anhänger der so genannten "Deutschen Physik" als die einzig ernsthaft Belasteten vorgeführt wurden (90). An dieser Stelle ist das Buch am stärksten, da es überzeugend übergeordnete Gemeinsamkeiten und Parallelen in den persönlichen Berichten darzustellen vermag. Wie Physiker in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit Schuld bzw. Verantwortung umgingen, spiegelt sich auch im Verhältnis zu den Emigranten und ins Exil Vertriebenen wieder. Hentschel zeigt auf, wie unsensibel, ja manchmal fast roh die in Deutschland verbliebenen Wissenschaftler in vielen Fällen mit ihren ehemaligen Kollegen umgingen. Denn sie sprachen sich nicht nur von persönlicher Verantwortung frei, sondern beklagten ihre, vor allem materiell sehr schlechte, Situation lauthals, ohne über die Ursachen zu reflektieren, und sorgten damit für Bestürzung und Verbitterung auf Seiten der Emigranten (150ff).
Leider verliert Hentschel im Laufe seiner Untersuchung die eingangs gestellte Aufgabe, die Suche nach jenem "Ensemble der Weisen und Inhalte des Denkens und Empfindens" (6), das die Mentalität der deutschen Physiker in diesem gewählten Zeitraum ausmacht, ein wenig aus den Augen. So wird z. B. nicht deutlich, was gerade jene von anderen Naturwissenschaftlern, wie z. B. den Chemikern, aber auch von ganz anderen Funktionseliten allgemein unterscheidet. Es ist natürlich zu begrüßen, dass der Autor zu Gunsten der Tiefe seiner Arbeit nur eine Gruppe auswählt (17). Dennoch wäre eine genauere Herausarbeitung der spezifischen Eigenheiten dieser untersuchten Gruppe wünschenswert gewesen. Auch was das Verhalten in der Nachkriegszeit von dem etwa in der Zwischenkriegszeit unterscheidet, bleibt etwas vage. Oft entsteht der Eindruck, dass viele der als Beispiel ausgewählten Physiker nach 1945 nur wiederholt haben, was sie schon bei den Machtwechseln 1918 und 1933 erfolgreich geprobt hatten (27). Offenbar waren sie in ihren politischen Überzeugungen gerade so "flexibel", um den größtmöglichen Nutzen für ihre eigenen Projekte daraus zu ziehen: Wissenschaft ohne Rücksicht auf Verluste (78f.).
Es wäre eine interessante wissenschaftskritische Fragestellung herauszufinden, ob der Befund, dass vielen "nur die Wissenschaft wichtig" war (79), ein orts- oder zeittypisches Phänomen ist oder sich allgemeiner nachweisen lässt. Denn wie verbreitet diese Einstellung war, wird durch Hentschels Analyse der Quellen erschreckend deutlich. Weder erklärte Gegner der Nationalsozialisten, selbst Exilanten (47ff.) oder die Alliierten scheuten sich nicht, jene rein zu waschen, die politisch nachweislich nicht integer waren, aber aus wissenschaftlicher Sicht unverzichtbar schienen (103).
Alles in allem gibt Hentschels Arbeit jedoch einen lesenswerten Einblick in die Arbeitsatmosphäre deutscher Physiker in der Nachkriegszeit. Sie macht auf geradezu beklemmende Weise deutlich, wie schwierig, wenn nicht unmöglich die Kommunikation zwischen allen Beteiligten für lange Zeit durch die Jahre des nationalsozialistischen Regimes geworden war.
Anmerkungen:
[1] Vgl. z.B. Ute Deichmann: Flüchten, Mitmachen, Vergessen: Chemiker und Biochemiker in der NS-Zeit, Weinheim 2001, und Dieter Hoffmann / Mark Walker (Hgg.): Physiker zwischen Autonomie und Anpassung. Die Deutsche Physikalische Gesellschaft im Dritten Reich, Weinheim 2006.
[2] Vgl. z.B. Uta Gerhardt: Soziologie der Stunde Null, Zur Gesellschaftskonzeption des amerikanischen Besatzungsregimes in Deutschland 1944-1945/1946, Frankfurt a. M. 2005, und Stephan Grigat / Johann Dvorák: Feindaufklärung und Reeducation, Freiburg i. Br. 2006.
Vanessa Cirkel-Bartelt