Peter Hersche: Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, Freiburg: Herder 2006, 2 Bde., 1206 S., ISBN 978-3-451-28908-8, EUR 78,00
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Den Theoretikern der Moderne in Europa, allen voran Max Weber, galt alles Protestantische als fortschrittlich, Katholisches als rückständig. Damit führten sie eine Tradition fort, die bereits die - überwiegend protestantischen - Reiseschriftsteller der Aufklärung begonnen hatten und die nicht nur bis in den borussisch inspirierten Kulturprotestantismus weiterwirkte. Entgegen seinem früheren Vorhaben arbeitete Max Weber den Typus katholischer Lebensführung empirisch später nicht mehr aus. Das Fehlen einer solchen heuristischen Anregung aus der Feder eines der wichtigsten Ahnen moderner Sozialgeschichtsschreibung dürfte eine theoretisch gehaltvolle europäische Geschichte des Katholizismus nicht gerade befördert haben. Erst die Arbeiten von Wolfgang Reinhard boten ab den 1970er Jahren modernisierungstheoretische Anhaltspunkte, die zunächst vor allem im deutschsprachigen Raum rezipiert wurden.
Solche Forschungshintergründe arbeitet der emeritierte Berner Historiker Peter Hersche auf den ersten hundert Seiten seiner magistralen Überblicksdarstellung kritisch auf. Dabei mustert er die traditionelle Kirchengeschichtsschreibung ebenso durch wie die religiöse Volkskunde, die Konfessionalisierungstheorien und die religiöse Mentalitätengeschichte der Annales. Hersche führt die Forschungsergebnisse der Sozial-, Kirchen-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte aus acht Sprachräumen erstmalig zu einem solchen gesamteuropäischen Überblick zusammen. So souverän kann das nur ein Emeritus bieten, der über viele Jahrzehnte dieses Forschungsfeld kontinuierlich verfolgt hat.
Hersches Plädoyer geht dahin, das katholische Europa nicht als defizitäre Welt, sondern als einen anderen Weg in die Moderne zu betrachten, dem er sogar "vielleicht einen weniger schmerzhaften Weg in die Moderne" zugetraut hätte (947). Bereits im Titel seiner exzellenten Geschichte "Italiens im Barockzeitalter" (1999) wählte Hersche den Barockbegriff zur Charakterisierung dieses besonderen katholischen Weges. Im Titel des hier zu besprechenden Werkes greift er das wieder auf und präzisiert es. In Abgrenzung von literaturwissenschaftlichen und kunsthistorischen Definitionen bezeichnet Hersche mit "Barock" die "Dominanz des Kulturell-Religiösen gegenüber dem Ökonomischen". Das erlaubt meines Erachtens gerade in der spannungsvollen Verbindung von Ökonomie und Kultur einerseits die Einbeziehung einer Vielfalt von Phänomenen und ist andererseits begrifflich präzise genug, um eine Abgrenzung gegenüber der spezifisch -protestantischen - Moderne zu leisten. Als zeitliche Begrenzungen für den im Schlusskapitel ausführlich diskutierten Epochenbegriff bietet Hersche die Jahre 1600 bis "um 1770" an. Das 18. Jahrhundert könne man für die katholische Welt nicht als Zeitalter der Aufklärung bezeichnen, da ihm die große Mehrheit der Bevölkerung fern gestanden habe.
Versucht man der Anschaulichkeit halber zunächst eine phänomenologische Annäherung, dann ließe sich an die etwa 100 Mio. Seelenmessen pro Jahr und die von Mittelitalien bis Franken überall neuen, nämlich barock ausgestatteten Pfarrkirchen als zwei markante Charakteristika des katholischen Europa im 18. Jahrhundert denken. Geringere Militärausgaben als in protestantischen Staaten, ein toleranterer Umgang mit den Bettlern, eine enge Verbindung des Schulwesens mit der Kirche, andererseits aber organisierte Bildungsinstitutionen für Mädchen wären weitere Merkposten. Während das protestantische Nordwesteuropa zur gleichen Zeit in Manufakturen und Infrastruktur, Versicherungen, Fernhandel und Privathäuser investierte, bevorzugte man im katholischen Teil des Kontinents die Landwirtschaft, die insbesondere im Zuge der Reagrarisierung Italiens nach der fatalen Pestwelle von 1630 durch den Ausbau von Spezialkulturen (Wein) intensiviert wurde. Davon ließ sich gut leben und ein erheblich größerer Teil des Sozialprodukts für den Kultus abzweigen. Erst in der Phase des Reformabsolutismus des ausgehenden 18. Jahrhunderts begannen katholische Länder die Aufholjagd - also doch Rückständigkeit?
Folgen wir zunächst dem Gang von Hersches Argumentation, der den Forschungsüberblick mit einer differenzierten Betrachtung der ganz unterschiedlichen Katholizismen abrundet. Er grenzt einen südeuropäischen, der fern reformatorischer Einflüsse war, von dem Katholizismus der gemischtkonfessionellen Räume Mittel- und Mittelosteuropas ab, der wiederum vom klassizistischen Modell Frankreichs zu unterscheiden ist.
Hinsichtlich der Konfessionalisierungsthese belegt Hersche, wie schwach letztlich die Reformimpulse des Konzils von Trient (1545 bis 1563) blieben, die Kirche romkonform zu disziplinieren: Selbst für das quantitativ noch am besten untersuchte Frankreich, das die Beschlüsse von Trient allerdings nie formell übernahm, kann er zeigen, wie fragil und klein die an vielen Orten zunächst gegründeten Seminare für die Priesterausbildung waren, die ja als die entscheidende "Kaderschmiede" der katholischen Reform gelten. Darüber hinaus belegt er eindrücklich die bescheidene Qualität der Ausbildung und die einer Änderung entgegenstehenden Interessen. Auch in vielen andern Feldern der Reform wie z. B. den Visitationen - und sehr wohl in Ländern, die zumindest offiziell die Konzilsdekrete rezipiert hatten - mussten die Impulse des 16. Jahrhunderts im ausgehenden 18. Jahrhundert gewissermaßen völlig neu wiederaufgenommen werden. Empirisch dicht belegt und jeweils mit dem Blick auf ganz Europa, bringt Hersche Fundamentalkritik an den Thesen der Konfessionalisierungstheoretiker auf den Punkt, die bereits seit Jahren - auch im außerdeutschen Sprachraum - punktuell deutlich zu vernehmen war.
Hersche unterstreicht, wie stark gegenüber dem Projekt einer von Klerikern dominierten Kirche der Einfluss der Laien blieb, die in Bruderschaften oder Stiftungen nicht zuletzt erhebliche Vermögenswerte in der Hand behielten. Bis auf die Ebene der Pfarrei werden die jeweiligen Entwicklungen durchgemustert. Bei jedem Aspekt dieser theoretisch präzise orientierten "Totalgeschichte" des Katholizismus differenziert Hersche nach Regionen und Zeitpunkten. Dieses Buch löst durchaus den mittlerweile von fast niemandem mehr erhobenen Anspruch einer "Totalgeschichte" ein. So werden z. B. innerhalb des Hauptkapitels "Sozialgeschichte" in vier Bereichen zunächst als "Besonderheiten der katholischen Gesellschaft" deren Demographie, die Rolle der Stände, des Adels, der Fürstenhöfe und der geistlichen Staaten in Deutschland abgehandelt. Dann folgt als zweites Unterkapitel eine umfassende Sozialgeschichte des geistlichen Standes. Die Stichworte Anzahl, Rekrutierung, Karriere, Alltag, Delikte und Einkommensverhältnisse deuten die Weite des Blicks an. Als drittes bietet Hersche entsprechend Gründliches zum Kloster als spezifisch katholischer Lebensform und abschließend 60 Seiten zur Rolle der Laien in der Kirche.
Allgemeinhistorisch bedeutsam sind die Ausführungen zum katholischen Wirtschaftsstil. Anhand geographisch gut ausgewählter Beispiele arbeitet Hersche Besonderheiten wie "agrarisches Denken", Reagrarisierung, aber auch Handelstätigkeit, Sonderformen des Kreditwesens, Getreidebanken, die Bedeutung von Stiftungen und den "Transfer von monetärem in geistliches Kapital" - die Seeelenmessen - heraus. "Ostentative Verschwendung" wird dann in allen ihren Facetten vom barocken Bauboom bis zu den Pfarrkirchen, Sakral- und Funeralpomp debattiert. Insgesamt attestiert Hersche den Katholiken eine Mußepräferenz - auf der Basis des Heiligenkultes mit seinen Fest- und Feiertagen.
Im dritten Hauptteil, der Kultur- und Mentalitätsgeschichte wird die "erfolglose Disziplinierung" - trotz Inquisition und Beichte, Ehegerichten etc. - dann für viele Lebensbereiche gründlich belegt, den Katholiken ein "Leben ohne Plan" attestiert, dem ein entspannteres Zeitbewusstsein zugrundeliege, eine geringere Neigung zum Versicherungswesen entspreche und eine weniger konsequente Armenpolitik. Analog dazu wird die Wallfahrt leicht provokativ unter dem Lemma "religiöses Freizeitvergnügen" abgehandelt. Schließlich relativiert Hersche die Überschätzung der Wissenschaft innerhalb der Historiographie zur Entstehung der Moderne, unterstreicht die vorrangig anderen - kulturell ostentativen - Interessen auch des Großteils der Elite des 18. Jahrhunderts. und weist die Deutung von Zensur und Inquisition als eigentlicher Bremse innerhalb des Katholizismus zurück. Man sieht an einem solchen Einzelbeispiel, dass dieses Buch gleichermaßen umfassend den Stand der aktuellen Debatte spiegelt und im einzelnen eine Fülle von neuen Akzentsetzungen bietet, die eine Rezension nur andeuten kann. Die Feingliederung erlaubt durchgehend seine Benutzung als Handbuch.
Abschließend diskutiert Hersche die Unterschiede innerhalb der protestantischen Welt und die gegenseitigen Beeinflussungen der Konfessionskulturen. Dementsprechend waren konfessionelle Prägungen jeweils nur mehr oder weniger stark, keineswegs wechselseitig ausschließlich. Allerdings habe sich die spezifisch kirchendominierte, korporatistische, wenig auf Disziplinierung setzende Barockkultur nur in katholischen Ländern voll entfaltet. Ihr konservativer Zug, der sich sozial vorwiegend auf Adel und Bauerntum abstütze, den Künstler hoch-, den Kaufmann aber eher geringschätzte und die staatlich-rechtlich-politische Sphäre weniger entwickelte, zielte auf Stabilität und - außer in der Kunst - nicht auf Fortschritt. Er barg deshalb auch den Keim ihres Untergangs. Stabilität sei, so Hersche, aber kein Stillstand.
Wer nicht nur wissen will, was die Besonderheiten des katholischen Barockzeitalters waren, sondern sein Bild der europäischen Geschichte von verschiedenen Blickverengungen aus hundert Jahren Modernisierungsgeschichte befreien will, der muss zu diesem Buch greifen - und er kann sich dabei ganz im Einklang mit Max Webers ursprünglichem Forschungsprogramm fühlen. Den bewusst provokanten Titel "Muße und Verschwendung" meint Hersche nicht zuletzt auch als aktuellen Warnruf des Historikers gegen eine Mentalität grenzenloser Akkumulation. Dem Autor und der "Zunft" kann man nur zu einem - trotz seines durchgehend hohen Reflexionsniveaus - auch noch sehr gut lesbaren Buch gratulieren.
Martin Dinges