Eberhard Kessel: Das Ende des Siebenjährigen Krieges 1760 bis 1763. Teilband 1: Torgau und Bunzelwitz. Teilband 2: Schweidnitz und Freiberg, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2007, XX + 1020 S., ISBN 978-3-506-75706-7, EUR 98,00
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Als die Kriegsgeschichtliche Abteilung II des Großen Generalstabs der preußisch-deutschen Armee 1890 damit begann, die "Kriege Friedrichs des Großen" offiziell darzustellen, konnten die Bearbeiter auf wichtige Vorarbeiten zurückgreifen: auf das erste preußische Generalstabswerk aus den Jahren von 1824 bis 1847, das wesentlich auf der Auswertung des Gaudischen Journals beruhte, sowie auf das zweibändige Werk Theodor von Bernhardis von 1881 "Friedrich der Große als Feldherr". Die Neubearbeitung sollte das alte Generalstabswerk ersetzen, zum einen, weil Gaudi in seinen Niederschriften den König oftmals kritisiert, dessen Bruder, den Prinzen Heinrich, dagegen häufig gelobt hatte, zum anderen, weil in dem alten Werk den Schlachten nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet worden war. Das alte Generalstabswerk sei weder dem König noch der preußischen Armee in vollem Umfang gerecht geworden. Anders Bernhardi, dessen Buch für die amtliche Auslegung nun maßgeblich wurde. Denn Bernhardi hatte, ganz im Sinne der Kriegsgeschichtlichen Abteilung und der Doktrin des Generalstabs [1], behauptet, alle Schlachten Friedrichs seien weitaus konsequenter als bei Napoleon als Vernichtungsschlachten angelegt gewesen. Friedrich sei deshalb seiner Zeit, deren Lehre der methodischen Kriegsführung die Schlacht zu vermeiden suchte, weit voraus gewesen.
Die neue umfassende Darstellung der Kriege Friedrichs des Großen, bei der man bis zur Schlacht von Torgau 1760 (Band 13) gelangte, differenzierte zwar durch ihre detaillierten Studien und Untersuchungen Bernhardis These. Im Grunde aber bestätigte die nun offizielle Betrachtung seine Kernaussage. Im ersten, resümierenden Zwischenband des Genralstabswerks über "Friedrichs des Großen Anschauungen vom Kriege" lautete das Urteil über des Königs Kriegskunst: "Beherrscht und durchdrungen von dem Wunsche, im Kriege möglichst rasch und vollständig zu wirken, strebte er danach, den Gegner nicht nur zu schlagen, sondern zu vernichten, und auf dieses Ziel schneiderte er seine gesamte Taktik zu." [2]
Dieses Ergebnis, das das heroische Friedrich-Bild des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts weiter verdichtete, war zu erwarten gewesen. Denn das Generalstabswerk über die Kriege Friedrichs des Großen sollte, wie Eberhard Kessel 1936 rückblickend feststellte, "eine Dankesschuld der preußisch-deutschen Armee gegenüber dem großen König erfüllen" (XII). Es ist, wie Kessel bewusst war, aufgrund dieser Vorgabe alles andere als frei entstanden.
Man darf vermuten, dass er sich nach dem Ende der Monarchie auch in diesem Bewusstsein in den 1930er Jahren an die Abfassung der Operationsgeschichte der letzten Kriegsjahre 1760 bis 1763 machte. Er hatte sich, wie Thomas Lindner, der Herausgeber des Werkes über das Ende des Siebenjährigen Krieges, in seiner sehr knappen Einleitung schreibt, in der man über Kessel selbst so gut wie nichts erfährt, "das anspruchsvolle Ziel gesetzt, das Generalstabswerk über den Siebenjährigen Krieg zu vollenden" (XII). Und er tat dies eigenständig und mit Abstand zu seinen Vorgängerautoren, obwohl Ausarbeitungen des Großen Generalstabs zumindest für den 15. und 16. Band der "Kriege Friedrichs des Großen", d.h. für die letzten Jahre des Siebenjährigen Krieges vorlagen, die ihm "als Angehöriger des kriegsgeschichtlichen Lehrstuhls von Walter Elze in Berlin, der überwiegend beim E.S. Mittler Verlag publizierte", mit Sicherheit bekannt waren (XIV f.). Kessel hatte sich 1936 mit der Arbeit "Quellen und Untersuchungen zur Geschichte der Schlacht von Torgau", die 1937 erschien, habilitiert. Jedoch hatte er keine Dozentur erhalten, da er, wie Konrad Fuchs mitteilt, "nicht bereit war, dem Nationalsozialismus Konzessionen zu machen". Erst 1945 konnte er, in amerikanischer Kriegsgefangenschaft, in der "Lageruniversität" des Gefangenenlagers Dermott im US-Bundesstaat Arkansas seine akademische Lehrtätigkeit aufnehmen. [3]
Bis 1945 war Kessels Arbeit am Generalstabswerk weitgehend abgeschlossen. Jedoch gingen die beiden Exemplare seines Manuskripts am Ende des Zweiten Weltkrieges verloren. Erst Anfang der 1990er Jahre tauchte offenbar eines davon wieder auf. Dessen Echtheit hat Kessel, der 1986 verstorben ist, nicht mehr bestätigen können. Dass er tatsächlich der Autor des vorliegenden Werkes ist, darf man aufgrund der Erläuterungen Lindners in der Einführung (XIV-XVI) aber sehr zu Recht annehmen, auch wenn "ein regelrechter Nachweis der Autorenschaft [...] an den vorgefundenen Typoskripten [...] sich nicht mit letzter Sicherheit erbringen" lässt (XIV).
Überschrieben sind die in dem Band versammelten Teilbände mit "Torgau und Bunzelwitz" sowie "Schweidnitz und Freiberg", also mit den aus friderizianischer Sicht großen Ereignissen der letzten Kriegsjahre, und in dieser Perspektive folgen sie ganz dem Ansatz des Generalstabswerks. Entsprechend der Ausstattung der vorherigen Bände des Generalstabswerks, sind auch diesem letzten Band Beilagen (10) und Karten (31) beigefügt. Sie sind nicht neu angefertigt worden, sondern entstammen dem alten Generalstabswerk und sind für das bessere Verständnis des Textes und das Nachvollziehen des Beschriebenen sehr nützlich.
Anderes als in den frühen Bänden des Generalstabswerks machen die beiden Schlachten, das Lager und die Belagerung aber nur einen Teil, nämlich gerade einmal ein Drittel des Textes aus. Die übrigen Ausführungen sind den tagtäglichen Ereignissen in allen Feldzugsjahren gewidmet. Den operativen Maßnahmen Ferdinands von Braunschweig, des Prinzen Heinrich wie auch denen der preußischen Unterbefehlshaber, der Generale Hülsen, Werner oder Belling beispielsweise, wird die gleiche Aufmerksamkeit gewidmet wie den Operationen Friedrichs. "Die Feldherrengenialität des großen Königs" (960) wird nur als Alibi genannt. Das ist, auf das Ganze gesehen, ein Unterschied zum Generalstabswerk, das in erster Linie der Kriegskunst, d.h. den Schlachten des Königs geweiht ist und das Friedrich als diejenige Persönlichkeit vorstellt, die alle Bewegungen erdenkt und ausführt.
Dies jedoch war, das wird bei der Lektüre deutlich, nicht der Fall. Prinz Heinrich entschied selbst, wie er vorging; Ferdinand von Braunschweig sowieso, da er sich ja nicht als preußischer General, sondern als Feldherr der britischen Krone verstand. Aber auch Wunsch, Hülsen, Kleist und alle anderen Kommandeure agierten, wenn sie nicht in des Königs Reichweite waren, von Friedrich unabhängig, aufgrund eigener Lagebeurteilungen, so wie es die Kriegssituation erforderte.
Neben die Preußen und ihre Alliierten treten bei Kessel gleichberechtigt die Kontrahenten. Die Entscheidungsprozesse und Operationen der preußischen und alliierten Gegner, vor allem die der Österreicher und der Franzosen erhalten innerhalb des Textes breiten Raum. Sie werden unvoreingenommen und präzise aus der jeweiligen Sicht beleuchtet und keineswegs durch die preußische Brille betrachtet. Kessel zieht dazu u.a. Quellen aus dem Wiener Kriegsarchiv, den Staatsarchiven Hannover, Marburg, Stuttgart u.a., die meist edierten Korrespondenzen der französischen Generäle und vieles mehr heran; diverse Anhänge Kessels zu den jeweiligen Ereignissen geben darüber im einzelnen Auskunft.
Durch die gleichgewichtige Darstellung wird deutlich, wie oft, wie sehr und wie lange jede Armee, jedes Korps, jeder Truppenteil mit sich selbst zu kämpfen hatte und nicht mit dem Gegner - mit anderen Worten, wie stark Versorgungs-, Transport-, Orientierungs- und Kommunikationsprobleme die Kriegsführung bestimmten. Das war der wenig heroische Alltag. Vor allem deswegen "ging der Krieg mit dem Ausgang des Feldzugs 1762 an der allgemeinen Erschöpfung aller Kriegführenden zu Ende" (960).
Kessels Buch ist wertvoll. Es besitzt, weil mit dem Heeresarchiv in Potsdam viele der verwendeten Materialien Ende des Zweiten Weltkrieges verloren gingen, den Wert eines Quellenkompendiums. Es ist die ausführlichste, detaillierteste und gleichzeitig ausgewogenste Darstellung der militärischen Operationen des Siebenjährigen Krieges, die es heute gibt, weil es nicht nur die Manöver Friedrichs in den Blick nimmt, sondern gleichberechtigt auch die seiner Unterfeldherren und Gegner. Es macht zudem den wenig wackeren Kriegsalltag deutlich: Das Buch enthält damit nicht nur für die an Operationen- und Schlachtengeschichte, sondern auch für die an der Sozialgeschichte des Militärs Interessierten viele wichtige Informationen. Diese Dichte von Kessels Ausführungen wird wohl nicht mehr zu erreichen sein.
Anmerkungen:
[1] Siehe dazu Martin Raschke: Der politisierende Generalstab. Die friderizianischen Kriege in der amtlichen deutschen Militärgeschichtsschreibung 1890-1914, Freiburg i.Br. 1993, 115-134.
[2] Friedrichs des Großen Anschauungen vom Kriege in ihrer Entwickelung von 1745 bis 1756, hrsg. v. Großen Generalstabe, Berlin 1899, 374.
[3] Siehe zu Kessel: Konrad Fuchs: Kessel, Eberhard, Historiker, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. XVII, Herzberg 2000, Sp. 781-788.
Jürgen Luh