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Susanne Lachenicht / Michael Kaiser: Migrationen. Einführung, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 11 [15.11.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
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Migrationen

Einführung

Von Susanne Lachenicht / Michael Kaiser

Migrationen hat es als historisches Phänomen immer gegeben. Auf dem europäischen Kontinent, auf den Britischen Inseln und in Nordamerika haben sich vor allem Soziologen und Anthropologen intensiv aus wissenschaftlicher Perspektive mit Migrationen, homeland und Diaspora befasst. Historische Migrationsforschung, wie im Fall der Hugenotten oder der Deutschen in Nordamerika, war lange Zeit eher "Erinnerungskultur". In den letzten zwanzig Jahren hat sich indes die historische Forschung mehr und mehr dem Thema Migrationen gewidmet und neue Paradigmen entwickelt (vgl. hierzu ausführlich Hermann Wellenreuthers Rezension zur Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart).

Zunächst schienen jedoch vor allem die Jahrhunderte der so genannten Massenmigrationen, d.h. das 19. und 20. Jahrhundert, interessiert zu haben. Seit einiger Zeit sind aber auch die Migrationen der Frühen Neuzeit in den Fokus der Historiker gerückt. Denn Migrationen scheinen geradezu im Musterbuch der Moderne verzeichnet zu sein; ein Phänomen, das in der Frühen Neuzeit also schon deutlich so genannte "moderne" Züge trägt, die sich in den Migrationen des 19., 20. und 21. Jahrhundert wieder finden lassen. Auch diese Erkenntnis trägt zweifellos zum stetig wachsenden Interesse an dieser Thematik bei. Was die Fülle der Publikationen angeht, so scheint das Interesse dabei nach wie vor auf sehr bekannten Migrantengruppen zu liegen. Zumindest suggerieren dies die vielen in den letzten Jahren zu den Hugenotten oder den Sephardim erschienenen Studien.

Es sind in den letzten Jahren aber auch etliche komparatistische Arbeiten entstanden (zu nennen ist hier Matthias Asches Neusiedler im verheerten Land. Kriegsfolgenbewältigung und Konfessionspolitik im Zeichen des Landeswiederaufbaus) und Titel, die weit über die Frühe Neuzeit hinausgehen, wie der von Hartmut Lehmann herausgegebene Band Migration und Religion im Zeitalter der Globalisierung, Susanne Lachenichts Religious Refugees in Europe, Asia and North America und monumentale Nachschlagewerke wie Klaus J. Bades, Pieter C. Emmers, Leo Lucassens und Jochen Oltmers Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Diese scheinen ein wachsendes Bedürfnis, nicht nur des Fachpublikums, nach den Ursachen, Verlaufsformen und Folgen von Migrationen, nach dem Verhältnis von Religion und Migration und nach der Entstehung von Extremismus in der Diaspora zu befriedigen.

Versuche einer Gesamtdeutung des hugenottischen Refuge bzw. Darstellungen, die den Vergleich mit anderen Migrantengruppen suchen, sind in den letzten Jahren immer wieder auf den Markt gekommen. Sie bleiben jedoch, was den außerdeutschen Kontext angeht, oft an der Oberfläche und beziehen - wenn überhaupt - den Komplex der Integration, Segregation und/oder Assimilierung nur kursorisch mit ein. [1]

Was das hugenottische Refuge angeht, so setzt sich hier, wie die Arbeiten Paula Wheeler Carlos, Bertrand Van Ruymbekes und Raymond Hyltons zeigen, zunehmend ein revisionistischer und ansatzweise auch komparatistischer Ansatz durch, der Historikern wie Stefi Jersch-Wenzel und Eckart Birnstiel folgend, das wenig hinterfragte "Erfolgsmuster" der hugenottischen Migration überzeugend infrage stellt. Gleichzeitig wird der Versuch einer Neueinordnung unternommen, der den wirtschaftlichen und kulturellen Input, die "Innovationskraft" und "Leistungen" der Hugenotten und deren Integrationsverhalten mit dem anderer, weniger "beliebter" Immigrantengruppen - wie Juden, Niederländern und Böhmen - vergleicht und Mythos und Realität in ein neues Verhältnis stellt. [2]

Diese neueren Forschungen in den Ländern des Refuge relativieren zunehmend die innovatorische, staatsbildende und staatstragende Rolle von hugenottischen Einwanderern, während andere Migrantengruppen wie ashkenazische Juden, Niederländer, Böhmen, Mennoniten und viele andere (religiöse) Minderheiten zunehmend in ihrer Bedeutung für die Aufnahmeländer aufgewertet werden. Dieser "Aufwertung" anderer Migrantengruppen und der Etablierung neuer Forschungsfelder im Kontext der Migrationsforschung tragen die Arbeiten Alexander Schunkas (Gäste, die bleiben) und Stephan Steiners (Reisen ohne Wiederkehr) ebenso Rechnung wie auch Patrick Clarke de Dromantins Studie zu den Réfugiés jacobites dans la France du XVIIIe siècle.

Was die Bewertung der Rolle unterschiedlicher Migrantengruppen, nicht nur in der Frühen Neuzeit, anbelangt, so scheint hier ein Nivellierungsprozess eingesetzt zu haben, in dem nicht nur die Frage nach Auswanderungsmotiven, der Werbung von Einwanderern (siehe Diekmann Lockruf der Neuen Welt. Deutschsprachige Werbeschriften für die Auswanderung nach Nordamerika von 1680 bis 1760) und dem Missverhältnis von Erwartungshaltung und "Realität" im Hinblick auf Migranten und die "neue Heimat" gestellt wird. Von größerer Bedeutung ist seit einiger Zeit auch die Frage nach tatsächlich messbarem wirtschaftlichen und kulturellem Input von Migrantengruppen, ihren Überlebensstrategien, der Bewahrung ihrer "Andersartigkeit", der Konservierung und Transformation von Identitäten sowie dem Verhältnis von "Mythos" und "Realität".

Die Tendenz, überkommene Mythen aufzubrechen und den Wissenschaftsdiskurs auf eine neue solidere Basis zu stellen, scheint sich in allen Ländern abzuzeichnen, nicht zuletzt durch cross-cultural studies und das border-crossing der einzelnen Historiker selbst. Die Rekonstruktion oder Dekonstruktion der Geschichte von Migrationen, das Streben nach einem neutraleren, offeneren Wissenschaftsdiskurs über das Verhältnis von Majoritäten und Minoritäten, von Diaspora und homeland, von Integration, Exklusion, Segregation und Assimilierung und ihrer Funktionalisierung in den Aufnahmeländern und den Einwanderergesellschaften könnte auch für das Verständnis heutiger Probleme von Mobiliät und Migration nutzbringend sein.

Aus einer gesamteuropäischen Perspektive stellt sich hier beispielsweise die Frage nach dem wirtschaftlichen und kulturellen Input von so genannten "Gastarbeitern" wie Türken, Italienern, Griechen und Spaniern in der Phase des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg, nach heutigen Integrationsproblemen in der dritten Generation und nach der Bewertung der innovatorischen Wirtschaftskraft von "Gastarbeitern" und künftigen Immigranten.

Die Relevanz von Reflexionen über das Verhältnis von Vergangenheitsbewältigung, Erinnerungskultur und vermitteltem Geschichtsbild bzw. -bewusstsein im Kontext von Migrationen ist unbestritten. Für den Bereich Kolonialismus und Erinnerungskultur. Die Kolonialvergangenheit im kollektiven Gedächtnis der deutschen und niederländischen Einwanderungsgesellschaft haben Helma Lutz und Kathrin Gawarecki in ihrem Band Fragestellungen eröffnet, die nicht nur im Rahmen der Kolonialismusdebatten, sondern auch für die vergleichende Migrationsforschung von Nutzen sein könnten.

Zusammenfassend lassen die neueren Arbeiten erkennen, dass das Thema der Migration verschiedene neue Herausforderungen stellt. Eine verstärkte Historisierung scheint auch weiterhin allemal geboten zu sein, um von lieb gewonnenen, aber letztlich unhaltbaren Mythen Abschied nehmen zu können. Wichtig ist eine in beide Richtungen hin orientierte Forschung, die sowohl den Ursprung der Auswanderer und Exulanten, aber auch die Situation in der neuen Heimat in den Blick nimmt und beide Szenerien aufeinander bezieht. Neue Herausforderungen stellt aber vor allem ein komparatistischer Ansatz, der nicht nur verschiedene Beispiele historischer Migration vergleicht, sondern auch die Entwicklungen über Epochen hinweg zueinander in Beziehung setzt.

Historische Migrationsforschung hat Konjunktur und wird - diese Prognose wird man wagen dürfen - auch weiterhin von mindestens gleich bleibender Bedeutung sein. Deshalb stellen die in diesem Forum rezensierten Arbeiten auch lediglich ein kleines aperçu der in den letzten Jahren erschienenen Studien dar, denen weitere in den kommenden Monaten und Jahren folgen dürften.

Anmerkungen:

[1] Vgl. beispielsweise Barbara Dölemeyer: Die Hugenotten, Stuttgart / Berlin / Köln 2006 und die Rezension von Ulrich Niggemann, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 12; URL: http://www.sehepunkte.de/2006/12/11169.html und Eberhard Gresch: Die Hugenotten, Geschichte, Glaube und Wirkung, Leipzig 2006 und die entsprechende Rezension von Ulrich Niggemann, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 7/8; URL: http://www.sehepunkte.de/2006/07/10366.html.

[2] Stefi Jersch-Wenzel: Juden und "Franzosen" in der Wirtschaft des Raumes Berlin/Brandenburg, Berlin 1978 und jüngst Eckart Birnstiel: Asyl und Integration der Hugenotten in Brandenburg-Preußen, in: Guido Braun / Susanne Lachenicht (eds.): Les États allemands et les huguenots. Politique d'immigration et processus d'intégration, München 2007, 139-154.

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