Thomas Herzog: Geschichte und Imaginaire. Entstehung, Überlieferung und Bedeutung der Sirat Baibars in ihrem sozio-politischen Kontext (= Diskurse der Arabistik; Bd. 8), Wiesbaden: Harrassowitz 2006, XV + 972 S., ISBN 978-3-447-05089-0, EUR 138,00
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Noch bis in die 1960er Jahre hinein konnte man in den Kaffeehäusern von Damaskus, Kairo und anderen Städten des Nahen Ostens jene Erzähler antreffen, die volkstümliche Epen wie das hier behandelte regelrecht aufführten. Ihre Kunst zog, wenn auch in gewisser Weise gesellschaftlich verpönt, weite Kreise in den Bann und konnte auf solide Vorkenntnisse unter den Zuhörern bauen. Das Besondere dieser literarischen Form liegt denn auch in der schöpferischen Interaktion zwischen Erzähler und Zuhörer im Augenblick des Vortrags, was der Darbietung eine Dynamik verleiht, die fast schon an spontanes Musizieren heranreicht. Erst der Einzug des Radios und später des Fernsehens in die Kaffeehäuser führte zum recht schnellen Verschwinden dieser einstmals blühenden Erscheinung. Mit dem Verschwinden der Erzähler aber droht auch der Verlust ihrer Texte.
Die wenigen schriftlichen Textzeugnisse der Epen weisen eine vielschichtige und schwer durchschaubare Überlieferungsgeschichte auf. Der von Verfasser untersuchte Volksroman, die Sīrat Baibars (zu Deutsch: "Biographie des Baibars") ist dafür ein typisches Beispiel. Die ältesten noch erhaltenen Handschriften dieses überaus populären Werks stammen aus dem 17. Jahrhundert, ihre heute verlorenen Vorgänger aber dürften zurück in das 14. Jahrhundert oder noch früher gereicht haben. Allgemein dienten schriftliche Aufzeichnungen der Epen auf einer funktionalen Ebene nur der kurzfristigen Gedächtnisstütze des jeweiligen Erzählers, nicht jedoch ihrer langfristigen Bewahrung und Weitergabe an nachfolgende Generationen. Von später Geborenen immer wieder neu erzählt, wuchsen die Werke mit der Zeit organisch an. Das aber macht die textkritische Suche nach einer Urfassung so gut wie unmöglich und auch werkwidrig, erhoben die Epen doch gar nicht erst den Anspruch, einer solchen Urfassung zu folgen.
Hier liegt die Besonderheit der Überlieferung populärer Epen, dass sie eben keinen eigentlichen geschriebenen "Text" vorweisen, sondern gerade im mündlichen Vortrag und in der Interaktion mit dem Zuhörer ihr literarisches Potential entfalten. Dieser Schriftmangel ist sicherlich einer der Gründe, warum diese Literaturgattung innerhalb der lange fast ausschließlich auf Schriftzeugnisse ausgerichteten westlichen Orientalistik bis heute nicht die ihr gebührende Aufmerksamkeit fand. Man störte sich an einer vermeintlich minderen Qualität der Erzählungen und verlieh ihnen entsprechend abwertende Prädikate wie volkstümlich oder legendenhaft. Diesen aus dem Blickwinkel eines einseitig elitären Kunstverständnisses erwachsenen Missstand bemüht sich der Verfasser richtig zu stellen, indem er in seiner Untersuchung konsequent den Begriff des Volkstümlichen durch den des Populären ersetzt. Das mangelnde Verständnis ganzer Forschergenerationen führte jedoch nicht nur zu einer weitgehenden Unkenntniss der populären Epen als Werk, man verkannte aber ihre Bedeutung als Quelle zur nahöstlichen Mentalitätengeschichte in vormoderner Zeit.
Die Sīrat Baibars ist die Geschichte vom Aufstieg des Helden Baibars vom Sklaven zum Mamlukensultan. Es ist die Kreuzfahrerepoche, und der Held sieht sich zahlreichen bösen, heißt islamfeindlichen Gegnern von außen (Franken, Christen) wie von innen (Dämonen, skrupellose Verbrecher, muslimische Heuchler) gegenübergestellt, denen er sich allein oder mit der Hilfe von Gleichgesinnten stellen muss. Dabei kommt es immer wieder zu gefährlichen Rückschlägen, was ständige Spannung erzeugt und die fortwährende Aufmerksamkeit eines erlebnishungrigen Kaffeehauspublikums garantiert.
Das Besondere am Epos ist der Umstand, dass all jene Milieus, für die und in denen das Epos erzählt wurde, ihre jeweils eigenen Spuren hinterlassen, sozusagen am Werk mitgestrickt haben. Thomas Herzog nutzt diesen Umstand, ein "Fenster" zu den Vorstellungswelten der großen Masse der Bevölkerung in den Städten des arabischen Ostens auf zu stoßen. Es ist eine uns heute längst abhanden gekommene Welt, die ohne dieses Fenster wohl verloren gegangen wäre. Die Vorstellungswelten (auf Französisch das Imaginaire) änderten sich natürlich mit der Zeit, so dass sich die Mentalität in den Jahrhunderten, in denen das Epos weitergegeben wurde, in ihrem jeweiligen Wandel darstellen lässt. Im Umkehrschluss aber ermöglichen zeitbezogene Anspielungen auch eine Rekonstruktion der historischen Entstehung der einzelnen Teile des Gesamtwerks, also eine Rückverfolgung seines organischen Wachsens.
Herzog setzt sich drei Arbeitsziele: 1. die Entstehung des Werkes zu rekonstruieren; 2. das der jeweiligen Episode zugrundeliegende Imaginaire aufzuspüren; 3. die sozialen, politischen und spirituellen Funktionen populärer Epen in ihrem spezifischen Rezeptionskontext aufzuzeigen. Dazu bedient er sich, der Komplexität des Untersuchungsgegenstands geschuldet, eines bewusst pluralen Methodenkonzepts und stützt sich auf philologische, mentalitätsgeschichtliche und erinnerungstheoretische Ansätze gleichermaßen.
Er weist nach, wie die unterschiedlichen milieubedingten und zeitlichen Einflüsse auf das Werk ihren Niederschlag in jeweils unterschiedlichen Episodengruppen fanden, und kann darüber hinaus auch einen ältesten Kern, eine hypothetische "Proto-Sīra" in das späte 14. Jahrhundert datieren (414-418). Das Imaginaire speiste sich aus drei unterschiedlichen Quellen: 1. der nahöstlichen populären Erzähltradition; 2. der von den Erzählern selbst erlebten zeitgenössischen Wirklichkeit; 3. der (elitären) historiographischen Überlieferung. Eine Vielzahl beteiligter Autoren mit unterschiedlicher sozialer Herkunft fand zu einer übergreifenden kulturellen Synthese. Die Vorstellungswelten des Epos zeigen eine düstere, bedrohte Welt voller krimineller Gefahren, erotischer Begierden und einer bis zur Perversion entarteten Scheinheiligkeit traditioneller religiöser Eliten. Als Ausdruck der Sehnsucht nach einem besseren Leben aber erscheinen der Held Baibars und seine Mitstreiter, die echten Muslime, die aus dem Volk und für das Volk, die eine gute Gegengesellschaft versprechen und den Zuhörer gewissermaßen zum Mitstreiten einladen (419-422). So bot das Werk seinen Zuhörern neben gewöhnlicher Unterhaltung und Zerstreuung noch weit mehr: Es stiftete auch der gänzlich sinnleeren Existenz noch einen Sinn, befreite durch emotionales Abreagieren die Psyche von seelischen Spannungen und alltäglicher Verzweiflung und lud sich darüber hinaus noch mit kulturellem Gedächtnis auf. Das Epos ist aber auch so etwas wie eine Chronik der breiten Masse, die, nach den Erkenntnissen des linguistic turn (und wenn nur entsprechend aufmerksam gelesen), über nicht weniger historiographische Qualität verfügt als Chroniken im herkömmlichen Sinn (422-424).
Thomas Herzog betritt mit seiner Dissertation zur populären Sīra-Literatur wissenschaftliches Neuland. Dabei erschließt er eine gerade auch für die historische Forschung bedeutende Textgattung. Ihm ist zu seinem exzellenten Beitrag für eine methodenorientierte Islamwissenschaft zu gratulieren, die sich an ihrer Auseinandersetzung mit Nachbarwissenschaften wie den vergleichenden Kulturwissenschaften, der Literaturwissenschaft oder der Historischen Anthropologie messen lassen kann.
Lucian Reinfandt