Boaz Shoshan: Poetics of Islamic Historiography. Deconstructing Tabaris History (= Islamic History and Civilization. Studies and Texts; 53), Leiden / Boston: Brill 2004, XXXIV + 278 S., ISBN 978-90-04-13793-6, EUR 121,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Annette Katzer: Araber in deutschen Augen. Das Araberbild der Deutschen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2008
Shireen Moosvi: People, Taxation and Trade in Mughal India, Oxford: Oxford University Press 2008
Christoph Schumann (ed.): Nationalism and Liberal Thought in the Arab East. Ideology and practice, London / New York: Routledge 2010
Manan Ahmed Asif: A Book of Conquest. The Chachnama and Muslim Origins in South Asia, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2016
Andrew Lane: A Traditional Muʿtazilite Qurʾān Commentary. The Kashshāf of Jār Allāh al-Zamakhsharī (d.538/1144), Leiden / Boston: Brill 2006
In der hier vorgelegten Studie entwickelt der an der Ben-Gurion-Universität tätige Boaz Shoshan unter Anwendung aktueller narratologischer Ansätze eine neue Lesart von at-Tabaris (gestorben 923) monumentalem Geschichtswerk "Die Geschichte der Propheten und weltlichen Herrscher". Die Komplexität dieser Universalgeschichte und ihre strukturellen Besonderheiten sind zwar hinlänglich bekannt, doch liest Shoshan den Text zum ersten Mal als literarisches Werk. Angeregt unter anderem durch die Lektüre von Hayden Whites "Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth Century Europe" (Baltimore u.a. 1973) und Meir Sternbergs "The Poetics of Biblical Narrative. Ideological Literature and the Drama of Reading" (Bloomington 1985) versucht er zu zeigen, dass durch eine kritische Analyse der narrativen Strukturen eines klassischen historiographischen Textes neue Aufschlüsse über die Intention und die Ideologie des Autors und über das Werk gewonnen werden können. Dies kann allerdings nur vor dem Hintergrund einer gründlichen Kontextualisierung des Textes geschehen. Kulturelle Normen, Gewohnheiten, Sitten, soziale Pflichten und religiöse Anschauungen, die eine maßgebliche Rolle bei der Entstehung der Chronik spielten, gilt es bloßzulegen. Es gebe, so eine der Grundannahmen von Boaz Shoshan, keine allgemeingültige Lesart der Chronik. Der historische Text stelle, selbst wenn seine Glaubwürdigkeit erwiesen scheint, mehr dar als nur die Summe von Fakten, denn auch bei der Geschichtsschreibung handele es sich um eine literarische Kreation mit eigenen Gesetzen. Dabei spricht Shoshan den mittelalterlichen Chronisten den Wahrheitsanspruch nicht ab. Gerade in dem Spannungsverhältnis zwischen diesem Anspruch und der literarischen Ausformulierung der Geschichte liegt für ihn der Reiz einer narratologischen Untersuchung.
Das Buch ist in zwei Teile mit jeweils vier Kapiteln gegliedert. Im ersten Abschnitt erläutert Boaz Shoshan in erster Linie die dem Werk von Tabari zugrunde liegenden narrativen Strategien: (a) Methoden der Mimesis (Nachahmung). Hier geht es um die Untersuchung der rhetorischen Figuren, die zur Nachahmung der Realität bzw. zur wirklichkeitsgetreuen Darstellung von Ereignissen und Charakteren eingesetzt werden. Dazu gehören etwa die detaillierte Beschreibung von Gegenständen, geographischen Gegebenheiten, Physiognomien, Gesten oder Mimiken der Akteure. Diese häufig sehr präzisen Schilderungen haben die Wirkung, den Wahrheitsgehalt einer Episode zu unterstreichen, was bei dem Leser unweigerlich den Eindruck hoher Authentizität erzeugt. Shoshan bezeichnet die oftmals banalen Einzelheiten als erzählerischen Luxus, der sich jedoch hervorragend zur unterschwelligen Charakterisierung der Dramatis Personae eignet. Denn trotz ihrer Belanglosigkeit repräsentieren sie Elemente der herrschenden kulturellen Normen. Auch Wiederholungen, die in der Regel dazu dienen, die Bedeutung bestimmter Handlungen hervorzuheben, finden sich in Tabaris Text als gängiges Stilmittel. Eine zentrale Rolle spielen natürlich die Augenzeugenberichte. Sie gelten als das sicherste Medium, um zu beschreiben, was wirklich geschehen ist. Als narratives Instrument erfüllen sie letzten Endes drei Funktionen: Erstens fungieren sie als authentische Schilderung von dem, was man selbst gesehen oder gehört hat; zweitens halten sie zur eindeutigen Identifizierung einer Person oder eines historischen Ereignisses her; und drittens transportieren sie Emotionen, wie zum Beispiel die Verwunderung des Erzählers über außergewöhnliche Vorkommnisse. Augenzeugenberichte werden in der "Geschichte der Propheten und weltlichen Herrscher" bevorzugt eingesetzt, selbst dann, wenn dies auf Kosten des allgemeinen Erzählflusses geschieht. Oftmals kennzeichnet den Erzählstil ein verwirrendes Wechselspiel von Augenzeugenbericht und Nacherzählung. Aus der jeweiligen Position des Erzählenden wird dem Leser das Gefühl gegeben, am Geschehen direkt beteiligt zu sein. Als weitere Mechanismen der Mimesis dienen die offensichtliche Allwissenheit des Historikers/Erzählers bzw. das Gegenteil davon, nämlich das Eingeständnis von Wissenslücken. Der allwissende Narrator liefert dem Leser einen Einblick in die Gedanken und Gefühle der handelnden Akteure, seien es einzelne Personen oder Gruppen, Muslime oder Nicht-Muslime, und suggeriert damit in einem hohen Maße eine Teilhabe an der Handlung. Auch gelegentliche Eingeständnisse von Unkenntnis oder die Darstellung lückenhafter Berichte verfehlen insofern ihre Wirkung nicht, als dass sie als natürliche Umstände des Lebens betrachtet werden dürfen. Ob bewusst oder unbewußt als Mittel der Nachahmung in den Text eingfügt, haben diese beiden Phänomene in der Geschichtsschreibung - und hierin unterscheidet sie sich in nichts von der Fiktion - wichtige rhetorische Funktionen.
(b) Flexibler Umgang mit der Chronologie. Darunter versteht Boaz Shoshan erzählerische Effekte, die durch eine Umordnung der natürlichen Zeitabfolge, also durch eine willkürliche Einteilung des chronologischen Erzählflusses, erzielt wird. Die Zukunft der Geschichte ist dabei zu jedem Zeitpunkt Vergangenheit, d.h. es unterliegt allein der Perspektive des allwissenden Chronisten, die normale zeitliche Achse zu verlassen. Es werden mit der chronologischen Verschiebung bestimmte Absichten verfolgt. Zwei Techniken kommen in Tabaris Universalgeschichte große Bedeutung zu: Zum einen der Rückblick auf ein vergangenes Ereignis (analepsis). Dieser narrative Kunstgriff erfüllt die Funktion, die Hintergründe einer aktuellen Situation näher zu erläutern. Auch die Einfügung einer vaticinatio post eventum (Wahrsagen nach dem Ereignis) kommt diesem Zweck zugute. Zum anderen dient die Vorwegnahme von Geschehnissen (prolepsis) ebenfalls dazu, bestimmte Effekte zu evozieren, etwa eine entstandene Spannung herunterzuspielen oder aufzuzeigen, dass sich in moralischen Fragen schließlich das Gerechte durchsetzen wird. Ferner können ironische Aspekte sowie Momente der kritischen Selbstreflexion durch eine Umgestaltung der natürlichen Ereignisabfolge bewirkt werden. Nur wenig Aufmerksamkeit widmet Shoshan dagegen der Poesie im Rahmen der historischen Erzählung. Als zeitlich unabhängige Einfügungen erfüllen sie den gleichen Zweck wie die Rückblicke und Vorwegnahmen; sie dienen der besonderen Erläuterung eines Geschehnisses oder als Kristallisationspunkt zur kritischen Reflexion eines Ereignisses. Darüber hinaus kann der Autor mit ihrer Hilfe auch religiöse Botschaften, moralische Werte sowie lebensweltliche Weisheiten in sein Werk einfließen lassen.
(c) Vermittlung von Theologie und Ideologie. Zum besseren Verständnis des Textes müssen Tabaris Leben und seine Werke genau analysiert werden. Tabari konnte, Shoshan zufolge, gar nicht anders, als Geschichte im Hinblick auf ihre koranische Relevanz hin zu schreiben. So finden sich in der Chronik zahllose koranische Anspielungen und Zitate. In ihrer Beurteilung und Bewertung richtet sich Tabari nach denjenigen Maßstäben, die Gottes Wille als Zeichen seiner Allmacht widerspiegeln und daher für die weitere Entwicklung der Gemeinschaft des wahren Glaubens wegweisend sind. Damit wird die Zeitlosigkeit koranischer Werte in das Gesamtbild der Geschichte eingebaut. Theologische und ideologische Motive bleiben in Tabaris Geschichtswerk allerdings ganz klar hinter der narrativen Ebene verborgen, reflektieren aber dennoch sehr deutlich seine persönliche Sichtweise über Ursprung, Entwicklung und Struktur der Weltgeschichte.
(d) Intention und Methode. Welches Verhältnis hat Tabari grundsätzlich zum historischen Ereignis? Nach welchen Kriterien hat er sein Material ausgewählt? Es gibt keine konkreten Antworten auf diese Fragen, denn Tabari selbst hat sich darüber kaum geäußert. An vielen Stellen lassen sich jedoch seine eigene Hinsicht auf das Weltgeschehen und seine persönlichen Wertvorstellungen erkennen. So untermauert er zum Beispiel zahlreiche Ereignisse durch Zitate oder moralische Einwände, die bei dem Leser ganz bestimmte Empfindungen hervorrufen sollen. Von großer Bedeutung ist selbstverständlich auch die Wahl seiner Quellen. Mit jeder Entscheidung schließt Tabari gleichzeitig auch die Qualität und Vorzüge seiner Überlieferer mit ein, sei es den Universalismus eines Ibn Ishaq (gestorben 767 oder 768), die Urteilsschärfe eines al-Baladhuris (gestorben 892) oder al-Waqidis (gestorben 823) Korrektheit. Daneben benutzt Tabari aber auch fragwürdige Quellen, wie etwa den als korrupt geltenden Sayf b. Umar (lebte wohl im 9. Jahrhundert). Shoshan folgert daraus, dass die Abwesenheit der Stimme Tabaris nicht gleichzeitig auch seine Neutralität bedeutet. Tabari sei eben nicht unparteiisch. Hinter der Auswahl der einzelnen Überlieferungen und ihrer Anordnung stehe die erzählerische Intervention des Verfassers. Darüber hinaus liefere Tabari, so Shoshan weiter, auch zahlreiche einführende oder abschließende Kommentare zu bestimmten Ereignissen. Schließlich müsse man ebenfalls die Berichte und Chroniken berücksichtigen, die von dem Autor ausgesondert oder unberücksichtigt wurden.
Vor diesem Hintergrund geht Boaz Shoshan im zweiten Teil seines Buches ausführlich auf folgende vier Schlüsselereignisse der frühen islamischen Geschichte ein: 1. die Wahl Abu Bakrs zum Nachfolger des Propheten; 2. die Ermordung Uthmans, 3. die Schlacht bei Siffin und 4. den Tod Husayns bei Kerbala. In jedem einzelnen Fall kann Shoshan auf sehr einsichtige Weise zeigen, wie Tabari keineswegs einen Bericht an den anderen reiht, sondern im Gegenteil höcht kunstfertig und unter Verwendung vieler religiöser und ideologischer Vorgaben sowie mittels zahlreicher narrativer Strategien sehr wirkungsvolle Geschichten erzählt. Man erkennt ganz ausgezeichnet die durch Tabaris Hand geschaffene Dramatik der Handlung, die die historischen Ereignisse wiederzugeben vorgibt, jedoch bei Lichte betrachtet ebensoviele fiktive wie faktische Elemente enthält. Eine Realität läßt sich daraus nicht ableiten.
Boaz Shoshan hat mit seinem Werk eine wegweisende Studie zur Dekonstruktion historiografischer vormoderner Texte geliefert. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Weg in Form von weiteren subtantiellen Abhandlungen zu anderen Texten weiter beschritten wird!
Barbara Eisenbürger / Stephan Conermann