Jan Eckel / Thomas Etzemüller (Hgg.): Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen: Wallstein 2006, 312 S., ISBN 978-3-8353-0079-8, EUR 32,00
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"Eine Wissenschaft, die behauptet, über die einzig richtige Methode und die einzig brauchbaren Ergebnisse zu verfügen, ist Ideologie". Dieser Satz des Wissenschaftstheoretikers Paul Feyerabend wäre ein treffliches Motto, unter das man die Geschichte der Geschichtswissenschaft stellen könnte. Lange Zeit war diese recht traditionsreiche Disziplin in einer ideologieähnlichen Methodik erstarrt, die das Genie großer Männer in den Mittelpunkt rückte und das Schreiben von Geschichte von allen gesellschaftlichen Bedingungen isolierte. In den vergangenen Jahren ist jedoch endlich Bewegung in das Feld der Historiographiegeschichte gekommen. Einer neuen Generation von Historikerinnen und Historikern ist es gelungen, die alte Frage, wie historisches Wissen entsteht, auf originelle Weise neu zu beantworten, indem sie andernorts viel diskutierte Sozial- und Kulturtheorien in ihre Darstellungen integrierten. Dem daraus entstandenen Methodenpluralismus könnte unter Umständen eine Vorreiterrolle für die übrigen Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft zukommen. Dazu müssen jedoch Schneisen ins Methodendickicht geschlagen und Reichweite und Grenzen der neuen historiographiegeschichtlichen Ansätze präziser bestimmt werden.
Der vorliegende Sammelband sieht sich, wie die beiden Herausgeber Jan Eckel und Thomas Etzemüller in ihrer Einleitung formulieren, diesem Ziel verpflichtet. Ihnen geht es darum, ein möglichst breites Spektrum aktueller Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft zu präsentieren, um zukünftigen Studien ein adäquates methodisches Rüstzeug an die Hand zu geben. Die insgesamt neun Beiträge sind recht einheitlich gestaltet. Zunächst einmal explizieren die Autorinnen und Autoren ihre theoretischen Grundlagen, bevor sie deren Erkenntnismöglichkeiten anhand eines Fallbeispiels überprüfen. Entstanden ist ein überaus origineller Band, der die Frage nach dem besten Zugang zur Historiographiegeschichte erfreulich offen lässt und den Leser dazu einlädt, die unterschiedlichen Herangehensweisen selbst gegeneinander abzuwägen.
Den Auftakt bildet Etzemüllers programmatischer Aufsatz "Wie entsteht historische Erkenntnis?", in dem er die Erkenntnistheorie des radikalen Konstruktivismus mit dem systemtheoretischen Beobachterkonzept verknüpft, das Niklas Luhmann erarbeitet hat. Beide Theorien, so zeigt Etzemüller überzeugend, halten für den Historiker eine grundlegende Einsicht parat: Erkenntnis ist von den wissenschaftsinternen Operationen des Beobachtens und Kommunizierens abhängig. Sie ist also eine Eigenleistung des Wissenschaftssystems, die stets in dessen jeweiliger Gegenwart stattfindet. Dieser Ansatz erfordert eine radikale Temporalisierung von geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis als operativem Vollzug von Ereignisgegenwart. Leider wendet Etzemüller diese Einsicht nicht auf sein Beispiel der "Königsberger Schule" um Werner Conze an, sondern führt mit Ludwik Flecks Wissenschaftssoziologie, Michel Foucaults Diskursanalyse und Pierre Bourdieus Habitustheorie drei weitere Zugangsweisen ein. Diese sind im Vergleich zum operativen Konstruktivismus Luhmanns unterkomplex, weil sie weniger gesellschaftlichen Kontext enthalten. So erfährt man zwar viel über einen gemeinsamen Denkstil der Königsberger, aber wenig über dessen konkrete Entstehung, die sich ja immerhin über die Weimarer Republik, die NS-Zeit und die frühe Bundesrepublik erstreckte.
Die beiden folgenden Aufsätze thematisieren in erster Linie die institutionellen Rahmenbedingungen der Geschichtswissenschaften. Mit Bourdieus Feldsoziologie analysieren Olaf Blaschke und Lutz Raphael die Professionalisierungsschübe in der französischen und deutschen Historiographie, wie sie nach 1945 von den Annales beziehungsweise der Historischen Sozialwissenschaft ausgingen. Beide Autoren zeigen, dass man mit dieser Perspektive zwar einiges über die Produzenten von Geschichtswissenschaft, jedoch nur Weniges über ihre Produkte erfährt. Ähnliches gilt für Gabriele Lingelbachs Beitrag, der die Universitätsausbildung von Historikern in den USA und in Frankreich miteinander vergleicht. Lingelbach weist nach, wie sehr die Universität seit dem späten 19. Jahrhundert deren Professionalisierung prägte. Kaum deutlich wird jedoch, bis zu welchem Grad diese Institution generell das Schreiben des Historikers organisiert. Vielleicht müsste man stärker zwischen Themen- und Methodenwahl beziehungsweise dem Inhalt wissenschaftlicher Texte als Resultate institutioneller Zugehörigkeit differenzieren. Jedenfalls stellt der institutionelle Zugriff eine wichtige Erweiterung der Historiographiegeschichte dar, den es in Zukunft noch weiter zu profilieren gilt.
Drei Beiträge befassen sich im weiteren Sinn mit dem historischen Text selbst. Anhand eines Beispiels aus dem 16. Jahrhundert nimmt Susanne Rau die frühneuzeitliche Historiographie in den Blick und interpretiert diese mit Maurice Halbwachs' Gedächtnistheorie als Ausdruck von Erinnerungskultur. Geschichte, so Rau, wirke bei der Ausformung des kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft mit. Historiographiegeschichte müsse als Erinnerungskulturanalyse angelegt werden, damit der Wandel von gesellschaftlichen Funktionen historischen Gedächtnisses nachgezeichnet werden kann. Angelika Epple plädiert für eine Verbindung von diskursanalytischer und narratologisch-hermeneutischer Historiographiegeschichte. Ihre Referenzautoren sind Foucault und Paul Ricœur. Epples Testfall bildet die "Empfindsame Geschichtsschreibung" um 1800, deren vier Erzählmuster Charakterporträt, empfindsame und pragmatische Entwicklungsgeschichte sowie Bildungsgeschichte sie idealtypisch herausarbeitet und dem Pol des historischen Erzählens zuordnet. Die Ausgangsfrage, inwieweit diese vier Diskurse gegen zeitgenössisches literarisches Erzählen abzugrenzen sind, wird allerdings nicht wirklich beantwortet.
Mitherausgeber Eckel widmet sich der Narratologiedebatte, die maßgeblich von der in Deutschland relativ spät einsetzenden Auseinandersetzung mit Hayden Whites Buch "Metahistory" beeinflusst wurde, das 1973 erschien. Er stellt sich Whites Herausforderung, historische Texte mit literaturwissenschaftlichen Methoden zu analysieren. Zu diesem Zweck entwickelt Eckel ein eigenes dreistufiges Untersuchungsmodell, das nach der Erzählerpräsenz, Zeitgestaltung und Plotstruktur in geschichtswissenschaftlichen Texten fragt. Anhand dreier Gesamtdarstellungen zur Geschichte der Weimarer Republik führt er seinen Ansatz überzeugend vor. Zweifellos kann dies nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einer umfassenden Analyse historischer Texte sein. Erkennt man die grundsätzliche Berechtigung dieses Verfahrens an, dann sind im Prinzip alle literaturwissenschaftlichen Methoden zuzulassen, sei es strukturale Textanalyse, Dekonstruktion oder die Theorie der Intertextualiät. Schon aus Eckels vergleichsweise reduziertem narratologischen Programm lässt sich gut erkennen, wie Gewinn bringend es sein kann, sich dem historiographischen Diskurs zuzuwenden.
Sebastian Conrad plädiert einmal mehr für die Transfergeschichte und illustriert deren Bedeutung anhand der europäischen Einflussnahme auf die japanische Historiographie Ende des 19. Jahrhunderts. Mit guten Gründen tritt er dafür ein, die transnationale Perspektive auf eine globalgeschichtliche zu erweitern, da sich wechselseitige Aneignungsprozesse in der Regel jenseits der Logik der Bilateralität entwickelten. Conrads eigene Konzeptualisierung einer solchen globalen Historiographiegeschichte bleibt jedoch eher vage. Hier könnte man von Luhmanns Theorie der Weltgesellschaft profitieren. Klaus Große Krachts lose Anlehnung an die systemtheoretische Medientheorie zeigt, wie stimulierend es auch für Historiker sein kann, Luhmann zu lesen. Die Streitgeschichte, die im Mittelpunkt seines Beitrages steht, ist dafür besonders geeignet, da es sich hierbei um ein Phänomen der Kommunikation handelt, das in der Systemtheorie ja die Basiseinheit des Sozialen bildet. Mittels eines kommunikationstheoretischen Ansatzes können historische Kontroversen weit umfassender analysiert werden als bisher. An deren historiographiegeschichtlicher Bedeutung besteht nach Große Krachts Ausführungen jedenfalls kein Zweifel.
Gleich in doppelter Hinsicht aus dem Rahmen fällt Jens Nordalms abschließender Beitrag über den Nutzen des Konzepts "Generation" für die Historiographiegeschichte. Zum einen distanziert sich der Autor vom "verbreiteten Methodenüberschwang" und betont durchaus zu Recht, dass sich die Methodenwahl nach dem Gegenstand, der Frage und dem Material des Historikers zu richten habe. Zum anderen plädiert er dafür, die geisteswissenschaftliche Hermeneutik wieder für die Historiographiegeschichte fruchtbar zu machen, jedoch ohne dies anhand seines empirischen Beispiels, des Historikers Erich Marcks, plausibel zu begründen. Seine Kritik am Konzept der "Generation", das in den Geschichtswissenschaften momentan etwas überstrapaziert wird, ist noch kein Argument für Hermeneutik. Schließlich handelt es sich bei "Generation" nicht um eine Methode, sondern um einen Begriff der Wissenssoziologie.
Insgesamt ist es den Herausgebern gelungen, einen anregenden Sammelband vorzulegen, dessen Beiträge auch zum Widerspruch einladen. Zwei Dinge fallen besonders auf: Zum einen der bisweilen anzutreffende Hang zu hybriden Theoriegemischen, der nicht nur das Verständnis der betreffenden Beiträge erschwert, sondern deren inhaltlichen Ertrag sichtbar begrenzt. Zum anderen die eher implizit bleibende Absage vieler Autoren an den "Eigen-Sinn" historiographischer Praxis. Demnach wäre das Schreiben von Geschichte kein kreativer Prozess, sondern durch Institutionen, Denkstile, Felder, Habitus und Diskurse determiniert. Diese verkürzende Ansicht resultiert aus der weitgehenden Fokussierung auf die Ordinariengeschichtsschreibung, deren agonales Selbstverständnis vom "Kampf um die Deutungsmacht" damit reproduziert wird. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass die Ausgangsfrage der beiden Herausgeber nach dem bestmöglichen Ansatz der Historiographiegeschichte der Suche nach der Nadel im Heuhaufen gleichkommt. Im Prinzip kann jede der hier vorgestellten Methoden - hybride Theoriekonstruktionen vielleicht ausgenommen - praktiziert werden. Letztlich wird im historischen Feld darüber entschieden, inwieweit sich das auf diese Weise neu produzierte Wissen bewährt. Möglicher Weise liegt in Paul Feyerabends Ratschlag "Anything goes oder: Mach, was du willst" doch mehr methodische Wahrheit, als man ihm auf den ersten Blick zugestehen mag.
Armin Nolzen