Thomas Etzemüller: Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit; Bd. 9), München: Oldenbourg 2001, VIII + 440 S., ISBN 978-3-486-56581-2, EUR 49,80
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Sebastian Brather: Archäologie der westlichen Slawen. Siedlung, Wirtschaft und Gesellschaft im früh- und hochmittelalterlichen Ostmitteleuropa, Berlin: De Gruyter 2001
Inge Bily / Wieland Carls / Katalin Gönczi (Hgg.): Sächsisch-Magdeburgisches Recht in Polen. Untersuchungen zur Geschichte des Rechts und seiner Sprache, Berlin: De Gruyter 2011
Der Titel verrät es kaum, der Untertitel lässt es allenfalls erahnen - Thomas Etzemüller hat mit seiner Analyse der Geschichte der von Werner Conze initiierten älteren bundesdeutschen Sozialgeschichte zugleich einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der deutschen Ostforschung in der frühen Bundesrepublik vorgelegt. Das kann nur auf den ersten Blick überraschen, ist der Komplex der Ostforschung in seinen institutionellen, personellen und inhaltlichen Dimensionen für das Thema doch gleich in mehrfacher Hinsicht relevant: Schon die Grundlagen des Conzeschen Projektes, die von der Politikgeschichte dominierte deutsche Geschichtsschreibung auf "Sozialgeschichte" umzustellen, führen in den 'deutschen Osten' zurück. Es waren das Königsberger Milieu, seine Leitgestalt Hans Rothfels und der intellektuelle Kontext der volksgeschichtlich ausgerichteten Ostforschung der Zwischenkriegszeit, die mit ihrem Denkstil und Habitus die frühe Sozialgeschichte der bundesdeutschen Nachkriegszeit, wie Etzemüller sagt, "präformierten". Sodann spielte das personelle Netzwerk der Ostforschung für den Durchsetzungserfolg des neuen Paradigmas insofern eine entscheidende Rolle, als es entwurzelten Ost-Historikern wie Werner Conze, Theodor Schieder, Erich Maschke oder Werner Markert nach 1945 den nötigen sozialen Halt, die unentbehrlichen Anknüpfungspunkte und Verbindungen bot, mit deren Hilfe sie im Westen überhaupt erst wieder akademisch Fuß zu fassen vermochten. Drittens blieb "der Osten" nach 1945 für die "Rothfelsianer" - wie für die übrigen Ostforscher - zunächst weiterhin eine existenzielle Lebensaufgabe, an der sie ihre wissenschaftlichen Arbeiten ausrichteten.
Wie Etzemüller noch an Conzes posthum veröffentlichter Geschichte Ostmitteleuropas demonstriert, blieb der "Denkstil" der "Königsberger" dabei im hohem Maße von der hergebrachten Konstruktion, der in der Zwischenkriegszeit entworfenen "mentalen Karte" vom "Osten" bestimmt. Diese mental map war engstens mit dem Bild von der "Grenze" verknüpft und bildete den "Osten" im Grunde noch immer nur als bedrohliches Äußeres ab, das es in der Geschichte (auf dem Wege der Europäisierung Ostmitteleuropas durch vornehmlich deutsche Kulturarbeit) einzudämmen und in der Gegenwart (in der Abwehr des Kommunismus) von der nach wie vor als Einheit gedachten beziehungsweise ersehnten deutschen Nation fern zu halten beziehungsweise wieder abzuschütteln galt.
Traten Conze und sein Arbeitskreis nach außen in eine geistige Auseinandersetzung mit dem Kommunismus ein, so nahmen sie nach innen mit dem Ziel der Sicherung einer sozial harmonisierten bürgerlichen Gesellschaft eine intensive geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Moderne auf. Beides machte sie, wie der Verfasser in intelligenter Differenzierung und wohltuendem Unterschied zu mancher Simplifizierung des Verhältnisses von Politik und Geschichtswissenschaft schlussfolgert, zu einer Geschichtsschreibung, die politische Aufgaben übernahm, zur "politischen Sozialgeschichte". In dem Maße, in dem sie dabei ihren Blick zunehmend auf das Innere Deutschlands konzentrierte, vom Grenzraum auf den Körper Deutschlands umlenkte, verlor sie den Osten als Forschungsgegenstand mehr und mehr aus dem Auge.
Aber auch noch in dieser Entwicklung bleibt die von Etzemüller brillant erzählte Geschichte des Conzeschen Projektes für den weiteren Gang der deutschen Ostforschung in höchstem Maße aufschlussreich. Denn, so seine Beobachtung, je mehr Conze und die übrigen "Rothfelsianer" die gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen der 1950-1960er Jahre in ihr Denken integrierten, sich nicht als blinde Antikommunisten gerierten und von einem reaktionären Abendland-Denken absahen, desto größeren Abstand nahmen sie zur Ostforschung, desto mehr distanzierten sie sich von ihren Arbeitskreisen und Institutionen. Sie blieben letztlich konservativ, ihr Denken auf die deutsche Nation gerichtet und der 'deutsche Osten' ihr Bezugspunkt. Dennoch waren sie als Wissenschaftler bereit, ihre Positionen zu revidieren und schließlich auch die vertragliche Abtrennung der ehemaligen deutschen Ostgebiete zu unterstützen.
Eduard Mühle