Peter Dinzelbacher: Das fremde Mittelalter. Gottesurteil und Tierprozess, Essen: Magnus Verlag 2006, 287 S., ISBN 978-3-88400-504-0, EUR 14,95
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Warum eine weitere Studie zu Gottesurteilen und Tierprozessen? Bereits der Blick in das Literaturverzeichnis von Dinzelbachers Monographie zeigt, dass die Gottesurteile, in geringerem Maße auch die Tierprozesse, seit weit über 100 Jahren ein breites Interesse vor allem der Rechtshistoriker fanden. Das Anliegen des Verfassers besteht jedoch darin, die beiden Rechtsphänomene nicht losgelöst von der Mentalität der Zeit, in der sie wirksam waren, zu betrachten. Beide stehen paradigmatisch für die Denk- und Handlungsstrukturen der behandelten Epoche, wobei Dinzelbacher auch frühneuzeitliche Quellen berücksichtigt. Dies scheint auf 231 Textseiten ein verwegenes Unterfangen zu sein, das jedoch - dies sei vorweggenommen - im Großen und Ganzen gelungen ist.
Um welche Phänomene geht es? Gottesurteile (Ordale) waren im Früh- und Hochmittelalter fast im gesamten lateinisch-christlichen Europa bekannt: Der Körper eines Unschuldigen wurde vom geweihten Wasser aufgenommen, beim Schuldlosen verheilten durch siedendes Wasser oder glühendes Eisen erzeugte Wunden, die rechtmäßige Sache obsiegte beim Zweikampf: Stets griff Gott ein, um dem Recht zum Durchbruch zu verhelfen. Er tat dies mithilfe der Elemente, die von Klerikern durch rituelle Handlungen geweiht wurden, und zeigte sein Urteil am "Körper als Kommunikationsmittel" (97). Peter Dinzelbacher zeigt, dass das Bestehen eines Gottesurteils oft als miraculum bezeichnet wurde. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass dies die Ausnahme war: Die wenigen überlieferten regionalen 'Statistiken' über einseitige Gottesurteile (Wasserprobe, Probe des heißen Eisens etc.) lassen eher den Schluss zu, dass der Unschuldsbeweis signifikant häufiger war als das Nichtbestehen. Von wenigen Kritikern abgesehen, waren die einseitigen Gottesurteile im Frühmittelalter kirchlich sanktioniert, während der Zweikampf schon früh auf Widerspruch der Päpste stieß. Scholastiker und Kanoniker des 12. Jahrhunderts verurteilten schließlich sämtliche Gottesurteile als Versuchung Gottes. Das IV. Laterankonzil (1215) untersagte die Mitwirkung von Klerikern daran, bald darauf (1234) verbot Papst Gregor IX. die Gottesurteile insgesamt. Dies hatte jedoch keinesfalls ihr völliges Absterben zur Folge. Vielmehr hielt sich gerade der kirchlicherseits besonders kritisierte gerichtliche Zweikampf des Adels, der auch ohne klerikale Mitwirkung auskam, regional bis ins 16. Jahrhundert.
Die Tierprozesse traten erst seit dem 13. Jahrhundert auf, also in der Zeit, als die Gottesurteile bereits von der Kirche delegitimiert waren. Hier unterscheidet Dinzelbacher zwei verschiedene Ausformungen: einerseits weltliche Verfahren gegen einzelne 'Missetäter' (etwa Schweine, die Kinder getötet hatten und darum hingerichtet wurden), andererseits geistliche Tierprozesse gegen Schädlinge, die von Bischöfen exkommuniziert wurden. In beiden Fällen konstatiert er ein Rechtsdenken, wonach die Tiere für ihr Handeln wie Menschen verantwortlich seien, gleichzeitig aber wie diese einen Anspruch auf Rechtsbeistand hätten.
Hinsichtlich der Gottesurteile versucht der Autor eine klare mentalitätsgeschichtliche Einordnung: Der Glaube an eine göttliche, der Welt immanente, stets auf Abruf sichtbare Gerechtigkeit sei im Hochmittelalter verblasst und habe einer rationaleren Weltsicht Platz gemacht. Was jedoch die Tierprozesse betrifft, so müssen geradlinige evolutionäre Geschichtsauffassungen scheitern: Dinzelbacher konstatiert vielmehr eine regressive Mentalitätsentwicklung im spätmittelalterlichen Weltbild, hervorgerufen durch Krisenerscheinungen (Hungersnöte, Pest), die seit dem Hochmittelalter feststellbare rationalistische Tendenzen überlagert hätten. Zugleich aber vermutet er, dass das Aufkommen der Tierprozesse (bei denen großer Wert auf formaljuristische Korrektheit gelegt wurde) der "Machtausdehnung zunächst der weltlichen, dann der kirchlichen Gerichte" geschuldet gewesen sei (133). Die Tierprozesse seien dem Bedürfnis entsprungen, immer mehr Lebensbereiche der Kontrolle des gelehrten Rechts zu unterwerfen: "Waren die Tierprozesse nicht [...] Demonstrationen der Obrigkeiten im Sinne von: Wir sorgen so gut für Recht und Ordnung, dass wir nicht einmal Vergehen von Tieren ungestraft lassen, sondern alles unserer Rechtsordnung unterworfen ist?" (141) Hier wird - und nicht nur an dieser Stelle - eine Frage formuliert, statt eine deutlichere Thesenbildung zu unternehmen. Dies mag den Leser zunächst irritieren, entspricht aber dem Konzept des Verfassers, Forschungsanstöße zu geben. Bedauerlich ist hingegen, dass er nicht einmal den Versuch unternimmt, die theologisch fragwürdige Exkommunikation von Tieren vom kirchenrechtlichen Denken her zu erklären.
In einem weiteren Hauptteil ("Aspekte der Fremdheit des Mittelalters") bettet der Autor beide Phänomene in den weiteren Kontext mittelalterlicher Mentalitäten ein, wobei einige angesprochene Felder (etwa "Dominanz des Religiösen" oder "Körperlichkeit") einen deutlichen Bezug zu den zuvor behandelten Themen erkennen lassen, während bei anderen eine solche Verbindung kaum zu erkennen ist. So ist zu fragen, warum er in einem Kapitel zur "Spontaneität" den Leser in eine ritualgeschichtliche Forschungskontroverse führt, die an dieser Stelle zwangsläufig oberflächlich bleiben muss.
Ein letzter Teil ("Verständnishilfen") möchte Perspektiven für die weitere mentalitätsgeschichtliche Forschung eröffnen. Peter Dinzelbacher wirbt für eine stärkere Berücksichtigung von Völkerkunde, Volkskunde und Psychologie in der historischen Mediävistik, wobei er durchaus auch die Probleme und Grenzen einer solchen interdisziplinären Zusammenarbeit benennt.
An einigen Stellen wäre eine tiefere Auseinandersetzung mit den Quellen und der Forschung sicherlich wünschenswert gewesen. So ist es problematisch, den Einfluss der jeweiligen Öffentlichkeit bei der Interpretation des Ausgangs von Gottesurteilen zu negieren und hier lediglich die Priester als 'offizielle' Gutachter in einer Machtposition zu sehen (66). Dem wäre entgegenzuhalten, dass bei religiösen bzw. 'kirchenpolitischen' Auseinandersetzungen die Rolle der öffentlichen Meinung öfter in den Quellen durchscheint (u.a. Feuerprobe des Petrus Ignaeus in Florenz 1068, Feuerprobe des Petrus Bartholomaeus in Antiochia 1098, Wasserprobe bei Ketzerprozessen des 12. Jahrhunderts). Eine kritische Würdigung des funktionalistischen Ansatzes von Teilen der angelsächsischen Forschung findet kaum statt. Relativ wenig Raum (81-84) widmet der Verfasser der klerikalen Kritik an den Gottesurteilen, die er in erster Linie mit einer rationalen scholastischen Skepsis des 12. Jahrhunderts in Verbindung bringt. So bleiben die dogmengeschichtlichen Hintergründe des Widerspruchs gegen die Ordale undeutlich - vor allem die deutlichere Scheidung zwischen nicht erzwingbarem miraculum und stets wirksamem sacramentum in der hochmittelalterlichen Theologie. Für ein zuverlässig funktionierendes Gottesurteil blieb in diesem abgrenzenden theologischen Denken kein Raum, wollte man nicht den Weg der Sakramentalisierung gehen, wie bereits überzeugend dargelegt worden ist. [1] Doch leider lässt das Buch eine sorgfältigere Analyse hochmittelalterlicher Vorstellungen von ratio vermissen.
Insgesamt agiert Peter Dinzelbacher bei seinen Urteilen mit Umsicht. Monokausale Erklärungsmuster werden vermieden. Sein Verdienst liegt in erster Linie darin, teils neue Fragen aufgeworfen und methodische Perspektiven zu ihrer möglichen Beantwortung aufgezeigt zu haben.
Anmerkung:
[1] Robert Bartlett: Trial by Fire and Water. The Medieval Judicial Ordeal, Oxford 1990, 86-90.
Dirk Jäckel