Peter Dinzelbacher (Hg.): Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum. Bd. 5: 1750-1900, hrsg. v. Michael Pammer, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2007, 631 S., ISBN 978-3-506-72024-5, EUR 108,00
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Anzuzeigen ist der fünfte Band des ambitionierten Unternehmens einer Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum. "Religionsgeschichte" weist darauf hin, dass ein möglichst umfassender Blick auf Phänomene des Religiösen und ihre Auswirkung auf die Gestaltung von Staat und Gesellschaft angezielt ist. Geografisch beschränken sich die Untersuchungen nicht nur auf das Alte Reich, sondern schließen auch die deutschsprachigen Gebiete Österreichs und der Schweiz mit ein, was bei den einzelnen Beiträgen je nach der Herkunft der Autoren mitunter zu ungleichgewichtigen Darstellungen führt. Die Handschrift des Herausgebers, der in Linz Wirtschafts- und Sozialgeschichte lehrt, zeigt sich auch in der zeitlichen Abgrenzung der Beiträge. 1750 wird als Beginn der Reformen des josephinischen Staatskirchentums verstanden, 1900 bleibt in den Beiträgen eine unbestimmte Zeitangabe; de facto bildet der Vorabend des Ersten Weltkriegs den terminus ad quem der einzelnen Artikel.
Die Autoren gehen in sechs Durchgängen an ihre Themen heran. Der erste Teil ist mit "Milieus" überschrieben (17-130). Michael Pammer und Max Vögler stellen die demografischen Veränderungen in der Konfessionsstatistik, die Probleme durch die Urbanisierung des 19. Jahrhunderts sowie die politischen Rahmenbedingungen, unter denen sich die Religionen entfalten konnten, dar. Den "Medien der Glaubensvermittlung" geht das zweite Kapitel nach (131-235). Neben Liturgie, Predigt und Gebet (Rainer Bendel) sind es vor allem Literatur (Michael Pammer), Kunst (Werner Telesko) und Musik (Michael Fischer), über die der christlich-jüdische Glaube vermittelt wird. Alle diese Medien werden sowohl in ihren Phänomenen als auch in ihrer epochenspezifischen Bedeutung behandelt. Die Romantik als geistige Strömung der Zeitenwende wird in den Teilartikeln besonders herausgehoben. Das nächste Kapitel widmet sich der religiösen "Vorstellungswelt" (237-316). In große Forschungshorizonte stellt Andreas Holzem seine Ausführungen über den Wandel der Gottesvorstellung, der Christusbilder sowie der Verehrung der Heiligen. Julia Kröhn weitet die geschichtlichen Vorstellungen auf die sich säkularisierenden Jenseitserwartungen aus. Ein umfangreiches Kapitel beschäftigt sich mit "Raum und Zeit" (317-410). Hier sind die meisten Rückgriffe auf die Zeit vor der Aufklärung zu verzeichnen, allerdings auch die meisten Vorausverweise auf die Gegenwart. Dadurch werden die Kapitel über die religiöse Topografie (Michael Prosser), den christlich geprägten Lebenslauf (Olivia Wiebel-Fanderl) und die religiösen Bräuche im Jahresverlauf (Dietz-Rüdiger Moser) leichter lesbar und verständlich. Mit "Ämter und Institutionen" (411-461) ist das Kapitel überschrieben, das den Strukturen der Pfarrerschaft (Tobias Dietrich) nachgeht und die institutionelle Entwicklung der Kirchen mitsamt ihren Konfliktlinien gegenüber dem Staat und binnenkirchlichen Strömungen thematisiert (Winfrid Halder). Das letzte Kapitel schließlich beschreibt "Menschen und ihr Handeln" (463-514), und zwar im Einzelnen liturgische und außerliturgische Handlungen (Walter Hartinger und Olivia Wiebel-Fanderl) sowie die Auswirkung religiöser Vorstellungen wie Vorsehung und Nächstenliebe auf Caritas und Sexualität (Michael Pammer).
Der mit 71 in den Text eingestreuten Schwarz-Weiß- und 16 Farbabbildungen reich illustrierte Band gibt einen ausgezeichneten Überblick über die Frömmigkeitsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Autorinnen und Autoren verstehen es, aus profunder Kenntnis ihrer Teilgebiete den Leser auf eine spannende Reise durch die religiösen Welten des Untersuchungszeitraums mitzunehmen. Vermittelt wird eine Vielzahl von Einzelinformationen, die ein buntes Bild des Katholizismus, Protestantismus und teilweise auch des Judentums zeichnen.
Doch gerade an dieser Stelle sind einige Anmerkungen anzubringen. Sie betreffen nicht Einzelaspekte, sondern die Konzeption des Sammelbandes insgesamt. Erfreulich ist, dass nicht nur Deutschland, sondern auch Österreich und die Schweiz berücksichtigt werden. Sowohl der deutschen als auch der österreichischen Religionsgeschichte tut dieser Blick über den eigenen (Forschungs-)Horizont hinaus gut. Die Schweiz erscheint dem gegenüber bisweilen als Anhängsel, was vielleicht auch damit zu tun hat, dass die Stärke der schweizerischen Forschungslandschaft in den Arbeiten zur Religionsgeschichte des 20. Jahrhunderts liegt.
Eine zweite Anmerkung bezieht sich auf die Periodisierung. Für Deutschland wäre der Einschnitt durch die Säkularisation und die napoleonische Epoche sicher deutlicher zu betonen, als es in den Beiträgen geschieht. Auch die Einschnitte durch die Revolution von 1848/49 und die Reichsgründung 1871 wären stärker zu bedenken. Diese aus der politischen Geschichte resultierenden Periodisierungen könnten deutlicher in Relation gesetzt werden zu den Epochenscheiden, welche sich aus den mentalen Veränderungen ergeben. Religion und Politik kennen eben differierende Rhythmen, was sich etwa in der wachsenden Bedeutung der pietistisch orientierten Erweckungsbewegung im 18. Jahrhundert und des Ultramontanismus erst ab den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts zeigt. Synchronität und Diachronität lassen sich bisweilen nicht in Deckungsgleichheit bringen.
Eine dritte Anmerkung bezieht sich auf das durchgängig verwendete Säkularisierungsparadigma. Nicht nur die viel kritisierte, aber dennoch anregende Rede vom 19. Jahrhundert als einem "zweiten konfessionellen Zeitalter" [1], sondern auch die statistisch gut dokumentierte Zunahme der religiösen Praxis im zweiten und dritten Drittel des Jahrhunderts zeigen, dass Säkularisierung zumindest durch Resakralisierung ergänzt werden muss. Was sich im Untersuchungszeitraum des anzuzeigenden Bandes zeigt, ist wohl eher einer Transformation des Religiösen denn einer Abnahme zuzuordnen. Wie sich dieser Wandel im 20. und 21. Jahrhundert auswirkte, wird sicher im folgenden Band thematisiert werden. Religiöses in spiritueller Gewandung bedarf jedenfalls der beständigen Erklärung und Neubelebung.
Eine letzte Anmerkung: Ein je neu anzumeldendes Ärgernis bleibt die Anordnung von Fußnoten als Endnoten in einem separaten Anmerkungsverzeichnis am Ende eines Buches. Ist den Autoren so wenig an der Rezeption ihrer Studien gelegen, dass sie die Belege dafür glauben verstecken zu müssen? Hier sollte die Wissenschaftlichkeit doch wirklich den Vorzug vor der Ästhetik bekommen. Die kritischen Anmerkungen wollten auf die Schwierigkeit aufmerksam machen, ein solch umfangreiches Werk adäquat in den Griff zu bekommen. Sie schmälern in keiner Weise die Leistung der Autoren und des Herausgebers, die einen bemerkenswerten Durchgang durch die Religionsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts vorgelegt haben, der für viele Einzelfragen eine wertvolle Fundgrube darstellt.
Anmerkung:
[1] vgl.: Olaf Blaschke (Hrsg.): Konfessionen im Konflikt: Deutschland zwischen 1800 und 1970. Ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002.
Joachim Schmiedl