Rezension über:

Jiří Ševčík / Peter Weibel (Hgg.): Utopien & Konflikte. Dokumente und Manifeste zur tschechischen Kunst 1938-1989, Ostfildern: Hatje Cantz 2007, 328 S., 143 Abb., ISBN 978-3-7757-1956-8, EUR 29,80
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Rezension von:
Christian Hammes
München
Redaktionelle Betreuung:
Caroline Sternberg
Empfohlene Zitierweise:
Christian Hammes: Rezension von: Jiří Ševčík / Peter Weibel (Hgg.): Utopien & Konflikte. Dokumente und Manifeste zur tschechischen Kunst 1938-1989, Ostfildern: Hatje Cantz 2007, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 1 [15.01.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/01/12780.html


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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Jiří Ševčík / Peter Weibel (Hgg.): Utopien & Konflikte

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Der vorliegende Band, der programmatische und theoretische Texte zur tschechischen Kunst der Nachkriegszeit versammelt, basiert auf der vom Forschungszentrum der Akademie der bildenden Künste in Prag unter der Leitung von Jiří Ševčík herausgegebenen Edition České umění 1938-1989, programy, kritické texty, documenty [Tschechische Kunst 1938-1989, Programme, kritische Texte, Dokumente]. Die deutsche Anthologie stellt eine Auswahl der tschechischen Quellensammlung dar, ist aber auch um einige spätavantgardistische Entwürfe, etwa von Karel Honzík, Zdeněk Pešánek und Karel Teige ergänzt. Die Auswahl von 40 Texten, die hier fast alle erstmals in deutscher Übersetzung vorliegen, deckt ein breites Spektrum unterschiedlicher Textsorten ab und schließt neben kunsttheoretischen Studien und Stellungnahmen der offiziellen Kulturpolitik auch Texte und Manifeste nichtsystemkonformer Strömungen sowie offen politisch oppositionelle Erklärungen wie die "Erklärung der Charta 77" oder die Petition "Einige Sätze" vom Vorabend der Samtenen Revolution ein.

Im Gegensatz zur tschechischen Originalausgabe weicht die deutsche Fassung von einer streng chronologischen Anordnung der Texte ab und fasst sie in thematische Blöcke zusammen, die die wichtigsten Stationen der tschechischen Kunst zwischen 1938 und 1989 abbilden und einzelne Konfliktsituationen und Problemlagen in den Blick nehmen, die zu einem je spezifischen Zeitabschnitt virulent sind. Dieses Vorgehen leuchtet aufgrund der stringenten Gliederung des Bandes unmittelbar ein. Die Publikation setzt mit einem "Avantgardistische Ausgangspunkte und spätavantgardistische Projekte" betitelten Kapitel ein, in dem das Spannungsfeld avantgardistischer Positionen zwischen künstlerischem Autonomieanspruch und der kurzfristigen Hoffnung nach Ende des Zweiten Weltkrieges, die eigenen gesellschaftspolitischen Vorstellungen beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft einbringen zu können, beleuchtet und der wechselseitige Ideenaustausch zwischen Surrealismus, Kinetismus, strukturalistischem Denken und funktionalistischer Architekturtheorie dokumentiert wird. Weitere Kapitel widmen sich der ideologischen Desavouierung der künstlerischen Moderne durch die Kulturpolitik der Kommunistischen Partei nach 1948, der Herausbildung nonkonformer Gruppen zu Beginn der 1950er-Jahre oder den unterschiedlichen Versuchen, den Begriff des Realismus mit der Ästhetik der Moderne auszusöhnen. Ein anderer Abschnitt stellt Texte unterschiedlicher Kunstströmungen zusammen, die sich in der Tauwetterperiode seit Beginn der 1960er-Jahre im direkten Kontakt zu zeitgenössischen Entwicklungen westeuropäischer und US-amerikanischer Kunst herausbilden. Diese Internationalisierung und Pluralisierung der tschechischen Kunst bildet die Anthologie mit Texten von Protagonisten der konstruktiven Tendenzen, der strukturalen Abstraktion sowie dem Manifest der Aktionskunstgruppe "Aktuální umění" und einer Aktionsvorlesung Milan Knížáks ab.

Ein Beispiel für die durchgehend kluge und anregende Textauswahl stellt der Abschnitt über die Phase der so genannten Normalisierung dar, in der sich die tschechische Kunst zunehmend vom internationalen Geschehen isoliert und von offiziellen Vorgaben abweichende Ideen meist nur noch über die verdeckten Kanäle der Samisdat-Publikationen verbreitet werden können. Zu dieser Situation liefern die versammelten Quellen ein differenziertes Bild der Diskussion um die Möglichkeiten und Fährnisse einer Kunst jenseits der offiziellen Doktrin. Das Modell des "Underground" oder der "zweiten Kultur" wird als ein in seiner Zielsetzung unterschiedlich konturiertes und kontrovers bewertetes Schlüsselkonzept alternativer Lebens- und Kulturformen für eine gesellschaftliche Situation vorgeführt, die von einigen als so widersprüchlich und grotesk empfunden wird, dass ihr allein mit den Mitteln der Groteske begegnet werden kann (Josef Kroutvor: Manifest der tschechischen Groteske). Nicht fehlen darf hier Ivan M. Jirous' "Bericht über die dritte tschechische musikalische Wiedergeburt", der zu einer Art Manifest des Underground geworden ist. Jirous gegenübergestellt ist Jindřich Chalupeckýs asketisches Modell der maximalen Entfernung des Künstlers vom System als Voraussetzung, um dessen Funktion als "Zeuge der Transzendenz" (228) erfüllen zu können. Josef Hlaváček wiederum wendet sich scharf gegen die beiden gemeinsame Verklärung des Underground-Künstlers als Märtyrer und unterzieht die vermeintliche Freiheit des Underground von den Zwängen des Marktes und der politischen Ideologie einer an Adorno geschulten Kritik, und Václav Havel schließlich problematisiert die strikte Trennung zwischen offizieller erster und inoffizieller zweiter Kultur und die damit verbundenen Werteschemata. Die Gegenüberstellung der genannten Positionen vermittelt nicht nur in dichter Folge unterschiedliche Schattierungen dissidentischen Denkens, sondern auch das durchgängig hohe Reflexionsniveau und politische Bewusstsein der beteiligten Akteure. Doch gerade in diesem Kapitel wiegt die notwendig selektive Präsentation der Textausschnitte schwer. Während die "Charta 77" mit ihren bürgerrechtlichen Forderungen vollständig abgedruckt ist - was angesichts der historischen Bedeutung des Dokuments für die Bürgerrechtsbewegung durchaus nachvollziehbar ist - ist andererseits etwa Jirous' Text so stark gekürzt, dass die Vermittlung eines spezifischen Lebensgefühls der tschechischen Jugend jener Zeit, welches dieser Text transportiert und das von den Entgrenzungsfantasien psychedelischer Musik und mystischer Denkformen geprägt ist, stark beschnitten wird. Hier wären andere Gewichtungen wünschenswert gewesen.

Den einzelnen Texten ist eine knappe Einleitung mit bibliografischen Angaben vorangestellt, die den jeweiligen Text in seinem historischen Kontext situiert und seine Zielsetzungen und Fragestellungen kurz benennt. Eine ausführlichere Einführung in die Problemlagen der jeweiligen Kapitel fehlt dagegen bzw. wird nur von dem dafür allerdings äußerst instruktiven und umfangreichen Überblicksessay Jiří Ševčíks am Beginn des Bands übernommen. Dies macht dem Leser eine schnelle Orientierung innerhalb der einzelnen Kapitel unnötig schwer. Zudem hätten sich Bezüge zwischen den Texten, etwa in Rückgriffen auf wirkmächtige Konzepte wie Teiges "inneres Modell", oder ihre Positionierung in den die Kunstdiskussion der Nachkriegszeit durchgängig leitenden Kontroversen, wie der zwischen Realismus und Formalismus, durch einen Index leichter erschließen lassen. Geht man davon aus, dass sich der vorliegende Band vornehmlich an ein nicht-tschechischsprachiges Publikum wendet, wären einige ergänzende Anmerkungen wünschenswert gewesen, die dem Nicht-Bohemisten weniger geläufige Begriffe, Personen oder Abkürzungen innerhalb der einzelnen Quellen erläutert hätten. So bleiben etwa die Formprinzipien von Jiří Kolářs Kollagetypen wie Rollage, Chiasmage oder Stratiphie unerklärt. Äußerst hilfreich dagegen sind die Kurzbiografien der Autoren sowie eine Auswahlchronologie zur tschechischen Kunst des behandelten Zeitraums, die neben markanten historischen und kulturpolitischen Daten auch die internationale Vernetzung der tschechischen Kunstszene über die Auflistung wichtiger Ausstellungen in der Tschechoslowakei und im westlichen Ausland dokumentiert.

Der vorliegende Band versteht sich dezidiert als eine Anthologie zur tschechischen Kunst. Slowakische Autoren und Künstler bleiben konsequent ausgeklammert. Die Beschränkung auf tschechische Quellen hat bei dem von der Prager Akademie verantworteten Editionsprojekt durchaus ihre Berechtigung. Für die deutsche Ausgabe hätte man sich jedoch gewünscht, dass das Ausblenden slowakischer Beiträge begründet oder dass wenigstens die historischen und kulturellen Spannungen zwischen den beiden Teilen der Föderation im Einleitungsessay reflektiert worden wären, verbindet sich der gewählte Zeitraum der Anthologie für den westlichen Blick doch eng mit der Geschichte der Tschechoslowakei. Trotz dieser marginalen Einwände liefert die vorliegende Anthologie einen wichtigen Baustein zur Erkundung der Kunst der tschechischen Nachkriegsgeschichte, der nun erstmals auch die zentrale Rolle des geschriebenen Diskurses in dieser Geschichte einem deutschsprachigen Publikum unmittelbar zugänglich macht.

Christian Hammes