Rebecca Zurier: Picturing the City. Urban Vision and the Ashcan School, Oakland: University of California Press 2006, x + 407 S., ISBN 978-0-520-22018-8, GBP 32,50
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Als 1908 die Ausstellung Eight American Painters in den New Yorker Macbeth Galleries eröffnet wurde, schlug man damit ein neues Kapitel der amerikanischen Kunst auf. Mit den in der Ausstellung vertretenen Künstlern, darunter Robert Henri, Everett Shinn und John Sloan, wurde seit den 1930er-Jahren der Begriff der Ashcan School assoziiert, der freilich eine so nie existente Künstlergruppe umschreibt. Der Terminus sollte einen den Alltag in den Fokus rückenden Realismus der Maler plakativ illustrieren und war in dieser Hinsicht sehr erfolgreich. Rebecca Zurier, die bereits Mitte der 1990er-Jahre als Mitverfasserin einer Studie über die Ashcan School in Erscheinung getreten ist, hat jetzt ein schön gestaltetes und reich illustriertes Buch zum Phänomen vorgelegt, das eine empfindliche Lücke in der Kunstgeschichtsschreibung der frühen amerikanischen Moderne schließt.
Im Grunde besteht das Buch aus zwei Teilen: in den ersten drei Kapiteln wird eine instruktive Situierung der Ashcan School in den weiteren kulturgeschichtlichen amerikanischen Kontext vorgenommen. In den folgenden vier Kapiteln werden Künstlerpersönlichkeiten in Einzelstudien vorgestellt. Ein weiterer Abschnitt, der wenig plausibel als dritter Teil figuriert, schließt mit Ausführungen zu Sloan ein weiteres künstlermonografisches Kapitel an, das scheinbar allein aufgrund seines etwas übersteigenden Umfangs separiert wurde.
Zwischen 1890 und 1910 verdoppelte sich die Bevölkerung der Metropole New York fast, die Extreme zwischen reich - die Fifth Avenue wurde als "four miles of millionaires" tituliert - und arm verschärften sich und völlig neue Konsumangebote für ein schnell wachsendes Heer von Angestellten und Arbeitern wurden etabliert. Die Maler der Ashcan School reagierten individuell auf diese neuen Phänomene, setzten unterschiedliche thematische Schwerpunkte und bedienten sich unterschiedlicher stilistischer Mittel. Dennoch zeichneten sie ein relativ homogenes Bild von der in jeder Hinsicht expandierenden und prosperierenden Metropole. Stadtansichten und der Blick hinter die Fassaden in Form von häuslichen Szenen waren zwei bereits existierende beliebte Perspektiven auf die Stadt, die ihre dynamische Entwicklung, wenn überhaupt, doch kaum angemessen reflektierten. Neu an der Ashcan School war ihr mitunter skizzenhafter und die versiegelnde Faktur vermeidender Realismus, der nach Zurier in der amerikanischen Malerei kein Vorbild besaß und sich von der Großstadtsicht des Impressionismus fundamental unterschied. Die einzelnen Künstler unterhielten überdies zum Teil Kontakte zu sozialistischen und anarchistischen Gruppen und erblickten in den anwachsenden städtischen Massen ein zukunftsträchtiges politisches Potenzial im Sinne einer weiter zunehmenden Demokratisierung des Landes.
Zu den stärksten Passagen des ersten Teils der Ausführungen zählen ohne Zweifel jene, die die etablierten Vorstellungen von Modernität und Großstadt bzw. Großstadt, Sichtbarkeit und moderne Kunst partiell relativieren. Nicht länger der von Baudelaire, Benjamin und diversen Nachfolgern skizzierte Flaneur als alleinige Instanz des ästhetischen Blicks auf die moderne Großstadt wird hier erneut profiliert - so zentral er auch weiterhin erscheinen mag -, Zurier kann weitere Instanzen wie den Novellisten, den Journalisten und den Zeitungsillustrator - wichtige Künstler der Ashcan School verdingten sich als solche - ins Felde führen, die weniger den aristokratischen denn einen demokratischen Blick auf die sich sozial stark differenzierende Gesellschaft warfen und die visuelle Kultur entsprechend diversifizierten. Die Ähnlichkeit zwischen den in diesem Zusammenhang immer wieder beigebrachten, zahlreich abgebildeten Zeitungsillustrationen und einigen Gemälde ist frappierend, kann nach Zurier aber nicht länger als Argument für eine mangelnde ästhetische Qualität der Kunst benutzt werden, sondern signalisiert vielmehr im Gegenteil deren Status im Sinne einer anderen, erweiterten und stärker pluralisierten Moderne.
Mit Robert Henri stellt Zurier eine Schlüsselfigur für die Genese der Ashcan School an den Anfang ihrer monografischen Kapitel. Zunächst in Philadelphia und ab 1900 in New York nahm der charismatische Lehrer gehörigen Einfluss auf die Fragestellungen und künstlerischen Lösungsversuche zahlreicher Schüler, von denen einige zu den Protagonisten der realistischen Bewegung wurden. Die Hinwendung zur Alltagsrealität und die freie, unakademische Annäherung an das Sujet, die trotz des immer wieder betonten Vorbildcharakters der künstlerischen Tradition wesentlich der eigenen Künstlerpersönlichkeit geschuldet war, wirkten auf Künstler wie Sloan inspirierend. Dabei vermittelte Henri die europäische Tradition, die er aufgrund mehrerer Europaaufenthalte genau kannte, ohne dogmatische Empfehlungen auszusprechen und propagierte seine Ideen überdies, wenn auch etwas später, öffentlichkeitswirksam auch in schriftlicher Form. Zurier kann allerdings auch die Probleme und Widersprüche von Henris Kunst herausarbeiten, der ab 1900 selbst eher als Porträtist denn als Schilderer der amerikanischen Modernität sowie vor allem als akademischer Lehrer tätig war und von dem sich trotz bleibender Anerkennung seine Schüler allmählich distanzierten.
John Sloan ist nach Ausführungen zu Everett Shinn - der in reportagehaften Bildern Eindrücke von Schneestürmen oder Elendsquartieren wiedergab -, zu William Glackens - der cartoonartige Straßenszenen ins Bild setzte - und zu Saul Bellow - berühmt für seine malerisch an Goya angelehnten Darstellungen von Boxkämpfen - ein abschließendes umfangreiches Schlusskapitel gewidmet. Auch bei ihm sind das kommerzielle Zeichnen für Illustrierte und der Ansatz Robert Henris Voraussetzungen für die eigene Kunst, die die Nähe zum Sozialismus herausstreicht und vielfach in der Zeitschrift The Masses publiziert wurde. Sloan zeichnet sich durch die Thematisierung des Sehens und des Blicks, aber auch des Gesehen-Werdens und der Präsentation für den fremden Blick aus. Seine memorierten Bilder verschränken die Modernität des alltäglichen Sujets mit der verdichtenden und entblößenden Perspektive des voyeuristischen Blicks sowie den spezifischen, nicht zuletzt am Kino orientierten Narrationsformen der Erinnerung, die gerade nicht in einen Plot münden, sondern vielfach offen bleiben.
Rebecca Zurier gelingt es in ihrem Buch eindrucksvoll, die moderne Kunst in Amerika genauer als bisher zu historisieren und den nicht geringen, oftmals aber ausgeblendeten Anteil der Ashcan School an der Konstituierung eines Segments einer genuinen amerikanischen Moderne - die so vehement nach 1945 von Künstlern wie Barnett Newman propagiert wurde - zu profilieren. Im zu bedenkenden Spannungsfeld der Bemühungen von Alfred Stieglitz mit seiner legendären Galerie 291 und der noch berühmteren, an der Kölner Sonderbundausstellung (1912) orientierten Armory Show von 1913, mit der man die Moderne in Amerika in der Regel einsetzen lässt, situiert sie die Ashcan School als spezifischen Beitrag Amerikas zur Geschichte einer zu Recht plural und nicht eindimensional aufgefassten Moderne im frühen 20. Jahrhundert, die bisherige Vorstellungen differenziert. Die hier entwickelten Bildformulierungen weisen auf den Realismus der 1930er-Jahre - man denke an Reginald Marsh oder Edward Hopper - oder die Fotografien Garry Winogrands in den Siebziger Jahren voraus. Der konsequent durchgeführte, materialreich fundierte kultur- bzw. sozialgeschichtliche Ansatz überzeugt dabei auf ganzer Linie, auch wenn man angesichts einer pluralisierten modernen Kunst den heraus zu präparierenden, durchaus unterschiedlichen Grad an visueller Komplexität nicht unterbewertet sehen möchte.
Olaf Peters