Rezension über:

Oliver Becher: Herrschaft und autonome Konfessionalisierung. Politik, Religion und Modernisierung in der frühneuzeitlichen Grafschaft Mark, Essen: Klartext 2006, 285 S., ISBN 978-3-89861-512-9, EUR 34,00
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Rezension von:
Olaf Richter
Mönchengladbach
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Olaf Richter: Rezension von: Oliver Becher: Herrschaft und autonome Konfessionalisierung. Politik, Religion und Modernisierung in der frühneuzeitlichen Grafschaft Mark, Essen: Klartext 2006, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 3 [15.03.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/03/8693.html


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Oliver Becher: Herrschaft und autonome Konfessionalisierung

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Am Ausgangspunkt der Studie steht die Frage, ob die Rolle des Staates in frühneuzeitlichen Konfessionskonflikten von der bisherigen Forschung eventuell überbewertet worden ist. Oliver Becher versucht am Beispiel der Grafschaft Mark während des 16. und 17. Jahrhunderts hierauf eine Antwort zu geben, der er methodisch eine über die untersuchte Region hinausgehende Erklärungskraft zuspricht.

Als Quellengrundlage dienen zeitgenössische monographische Behandlungen und Quellensammlungen, vor allem die im Staatsarchiv Münster befindlichen Überlieferungen der kleve-märkischen Landstände sowie der brandenburgischen Regierung. Die Unterlagen der Regierung beinhalten die zum Teil von Franz Philippi Anfang des 20. Jahrhunderts publizierten Kirchenangelegenheiten (amtliche Erkundigungen). Für die staatliche Seite (Geheimer Rat) werden weiterhin die Archivalien des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz in Berlin herangezogen. Akten der Kirchenarchive waren nach Feststellung des Autors wenig ergiebig.

Die Untersuchung, die im Buchhandel auch mit dem verändertem Titel "Spirituelle Herrschaft und autonome Konfessionalisierung" vertrieben wird, legt einleitend Fragestellung und Stand der Forschung dar. Dem schließt sich in den beiden folgenden Kapiteln eine knappe, allgemeine Darstellung der weltlichen und geistlichen Verwaltungsstrukturen der Grafschaft Mark an, die mit einem kirchen- und politikgeschichtlichen Überblick des Untersuchungszeitraums verbunden wird. Die eigentliche Untersuchung setzt mit dem vierten Kapitel ein, das von der Rolle der Landstände, insbesondere des Adels im Konfessionalisierungsprozess, handelt. Im Folgenden werden die entsprechenden Vorgänge in einem Vergleich der märkischen Städte betrachtet, etwa Bochum, Iserlohn und Unna; der Bezugspunkt ist jeweils die Landesherrschaft. Die beiden abschließenden Kapitel wenden die Perspektive auf die Pfarrer und ihre personellen Verhältnisse (dazu im Anhang vier tabellarische Aufstellungen) sowie schließlich auf die Einwohnerschaft, nach deren Wahrnehmung und Deutung der Konfessionalisierung gefragt wird.

Im Kern der Studie steht die Aussage, dass die Betrachtung konfessioneller Konflikte aus einer staatsbezogenen Sicht methodisch als problematisch und von den Ergebnissen her als unzureichend angesehen werden muss. Der Autor kommt zu dem Ergebnis, der "Staat", also die Landesherrschaft der Grafschaft Mark im 16. und 17. Jahrhundert, sei "eine zentrale Variable im Konfessionalisierungsmodell, die überbewertet ist" (221). Folgend weist er sogleich auf eine gewisse Widersprüchlichkeit dieser Aussage hin (zentrale und zugleich 'überbewertete' Variable), die mit einer zeitlichen Differenzierung ausgeräumt werden soll: Die brandenburgischen Landesherren hätten erst gegen Ende des Betrachtungszeitraums, also nachdem sich die Konfessionen ausgebildet haben, über diese grundlegende Funktion gesellschaftlicher Integritätsstiftung sowie die obrigkeitliche religiöse Verwaltung verfügt.

Vorher, während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und zur Zeit der jülich-klevischen Herzöge, sei die Konfessionsbildung durch ihre Träger - Bürgertum und Rat, Adel und Pfarrerschaft, also nicht durch sozial abgeschlossene Gruppen wie die Landstände - autonom gehandhabt worden. Folglich habe der Staat keine Rolle gespielt. Deshalb plädiert Becher für eine methodische Neuausrichtung des Konfessionalisierungsmodells in zweifacher Weise: Nach seinen Worten sei zu beachten, dass Konfessionalisierung insbesondere "durch Entwicklung einer eigenen[,] je nach Bekenntnis unterschiedlichen Sprache möglich gewesen" ist. Hinsichtlich der untersuchten Region könne "darunter die Genese einer spezifischen kommunikativen Kultur verstanden" werden, deren Interpretationsgegenstand "Konfession" gewesen sei: "Kommuniziert wurde vor allem im Konflikt [...] Diese Kommunikation vollzog sich einerseits sprachlich, andererseits durch Handlungen." Zweitens wird "die symbolische Kommunikation von Ritualen" betont, die ebenfalls bislang in der Forschung unbeachtet geblieben sei. Er bemerkt: "Da Rituale dazu in der Lage sind, Sinn zu stiften, erfolgte eine inhaltliche Adaption des konfessionellen Unterschieds über die performative Gestaltung von Religion.". Die märkische Gesellschaft habe im Untersuchungszeitraum durch "diese beiden Methoden von Kommunikationskultur und ritueller Konfessionalisierung" eine grundlegende Veränderung erfahren (alle Zitate 220).

Der Rezensent muss zugeben, dass er bei diesem Ansatz - abgesehen von der quellennahen Zusammenschau der Konfessionalisierungsvorgänge in den behandelten Städten - wenig Erklärendes findet, das der frühneuzeitlichen Konfessions- oder gar Gesellschaftsgeschichte zugute kommen kann. Es erscheint nicht nur die Verwendung der überladenen soziologisch-systemtheoretischen Begrifflichkeit kaum hilfreich, die mit ihrer abstrakten Beschreibung den Blick auf den Gegenstand oftmals geradezu verstellt: "Die Konfessionalisierungsforschung hätte sich dann eher solchen Problemen zu stellen, wie Herrschaft als symbolische Kommunikation codiert und identifizierbar ist [...]" (11); "Verfahrensbruch" (86) und "Verfahrenschaos" (88); "[...] gerieten die herzoglichen Länder in eine Systemkrise" (216), "Argumentationsstruktur der konfligierenden Gruppen" (217); "Adaption des konfessionellen Unterschieds über die performative Gestaltung von Religion" (220). Sondern es sind vor allem die inhaltlichen Schlussfolgerungen des Autors vielfach nicht neu, weder im allgemeinen noch hinsichtlich des spezifischen Untersuchungsgebietes, was er eingangs selbst unter Bezugnahme auf die westfälische Reformationsgeschichte Hermann Hamelmanns aus dem 16. Jahrhundert zugibt: "Schon hier ist ein Bild von der autonomen, langen Reformation in der Mark gezeichnet, für die vor allem lokal tätige Pfarrer verantwortlich gemacht wurden." (18) Diese Kritik trifft vor allem auf die grundsätzliche Deutung der märkischen Regierung als 'überbewertete zentrale Variable im Konfessionalisierungsprozess' zu, wobei der Staat zudem eine "unkonfessionell[e]" (215) Kirchenpolitik verfolgt haben soll. Dass die Ausbildung der Konfessionen eine langsame, oftmals gegenläufige und weitgehend in (Teil-)Gesellschaften abgelaufene Entwicklung war, ist freilich ebenso wie der Umstand bekannt, dass Glaubenskonflikte "neben religiösen auch soziale, herrschaftlich-ständische und ökonomische Gründe" (217) besitzen konnten.

Dieser Befund wurde durch die vorliegende Arbeit also bestenfalls für das Untersuchungsgebiet in einer erstmals umfassenderen und empirisch gestützten Forschung bestätigt, als das bislang der Fall war. Dabei ist jedoch nicht zu übersehen, dass sehr häufig verwendete Quellen wie Emil Dösseler (Geistliche Sachen aus den Registern der Grafschaft Mark, 1951/ 1953) oder das quellengesättigte personengeschichtliche Werk von Friedrich Wilhelm Bauks (Die evangelischen Pfarrer in Westfalen von der Reformationszeit bis 1945, 1980) bereits seit längerer Zeit im Druck vorlagen.

Im Übrigen ist die jülich-klevische Kirchenpolitik des 16. Jahrhunderts nicht als 'unkonfessionell' zu bezeichnen, weil die Regierung im Unterschied zu anderen Landesherrschaften lange keine klare Entscheidung für eine der in der Entwicklung begriffenen Konfessionen getroffen, sondern stattdessen eine konfessionell andersgeartete Richtung eingeschlagen hat.

Schließlich sind die vielen inhaltlichen wie formalen Fehler oder zumindest Ungenauigkeiten anzusprechen. Dazu eine Auswahl: Überschrift des zweiten Kapitels: "Skizze der frühneuzeitlichen Grafschaft Mark", darunter dann die Abschnitte "Grafschaft Mark im Hoch- und Spätmittelalter" und "Landstände im Spätmittelalter [...] "; "Kölner Erzbischof[] von Moers" (25); Herzogin Sibylla war nicht die Schwägerin von Herzog Johann Wilhelm, sondern seine Schwester (87); seit 1612 war Ferdinand von Bayern Kölner Erzbischof, nicht Maximilian (215); der Pfründeninhaber Theodor von Diest (vom Autor auch "van Diest" genannt) war kein Adliger, wie der Verfasser wohl am Namen abzulesen meint, so dass hier Adel und städtisches Patriziat argumentativ vermengt werden (119/135); Literaturverweis "Pott/Born" (250, Anm. 283), hingegen im Literaturverzeichnis als "Born/Pott" angeführt; Vernachlässigung der neueren Literatur, z.B. 241, Anm. 85: Edition klevischer Hofordnungen Schottmüllers von 1897 anstelle der kritischen Bearbeitung von Flink aus dem Jahr 1997). Zuletzt sei auf die äußerst vielen Schreibfehler hingewiesen.

Der Autor unterstreicht interessanterweise den gesellschaftlichen Bezug, zu dem seine Arbeitsergebnisse beitragen könnten. Mit Blick auf die Selbstreflexion einer "polykonfessionellen Gesellschaft" (214) wie der deutschen, gibt er zu bedenken, "welche Rolle Religion für Kulturen und Gesellschaften spielt [...] Gleichzeitig ist zu fragen, an welchem Punkt Religion zur Bedrohung wird, weil sie rational nicht zu vermitteln ist." Welchen Sinn hat aber das Aufwerfen derartiger gesellschaftsphilosophischer Fragen, wenn wenige Zeilen darauf gefragt wird: "Die Zeitgenossen nahmen die Frühe Neuzeit als Epochenschwelle und berechtigterweise als ausgesprochen finstere Zeit wahr, obwohl das ebenfalls finstere Mittelalter ja gerade erst vorbei war."? (5)

Olaf Richter