Stephan Sensen / Eckhard Trox / Maria Perrefort u.a. (Hgg.): Wir sind Preußen. Die preußischen Kerngebiete in Nordrhein-Westfalen 1609-2009, Essen: Klartext 2009, 263 S., ISBN 978-3-89861-965-3, EUR 19,95
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Im vergangenen Jahr konnte jenes Jubiläum begangen werden, das an den 400 Jahre zurückliegenden Übergang der behandelten Gebiete (Herzogtum Kleve, Grafschaften Mark und Ravensberg, ab 1648 auch Fürstentum Minden) an Preußen erinnerte. In sechs Museen (Lüdenscheid, Altena, Hamm, Wesel, Minden und Bielefeld) wurden zwischen 2009 und Frühjahr 2010 die einzelnen Leitthemen der Ausstellungsreihe präsentiert, die im Wesentlichen den Inhalt des vorliegenden Bandes widerspiegeln. Ergänzt werden die Aufsätze durch eine kurze Einführung von Jürgen Kloosterhuis, der die historischen Grundlinien des Verhältnisses von Preußen zu Rheinland und Westfalen herausarbeitet.
Kloosterhuis geht von der Territorialpolitik der Hohenzollern aus, also dem aus dynastischen Beziehungen herrührenden Erbe der jülich-klevischen Territorien (1609/14), dessen Anfall zeitlich in etwa mit dem Ausgreifen nach Osten, dem Erwerb des Herzogtums Preußen (1618), parallel verlief. Er stellt bei der nachfolgenden inneren, wirtschaftlichen, sozialen und Verfassungsentwicklung der neuen Länder im Westen insbesondere die spezifische Konfessionspolitik des Herrscherhauses heraus. Sie trug nach seiner Ansicht frühzeitig den Keim säkularer Tendenzen in sich, was später auf die übrigen preußischen Gebiete zurückgewirkt hat. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts ist die frühmoderne Staatsbildung in Ost und West vergleichbar verlaufen. Mit dem Erwerb Schlesiens zur Regierungszeit Friedrichs II. fand Preußen dann seinen Schwerpunkt im Osten - eine Situation, die durch die bedeutenden Erwerbungen nach 1815 in Westdeutschland wieder zu einer Balance korrigiert worden ist. Kloosterhuis begrüßt den durch die Ausstellungsreihe gegebenen Impuls, die in der Region zu Anfang des 20. Jahrhunderts noch eher unkritisch bejubelte, dann nach 1946 in Nordrhein-Westfalen mitunter verdrängte preußische Tradition historisch nunmehr angemessen zu reflektieren.
Der ausführlichste Beitrag des Bandes von Helmut Langhoff und Veit Veltzke, dem der wenig aussagekräftige Titel "Im Westen viel Neues" vorangestellt ist, behandelt im Anschluss an die Einleitung in vertiefter Weise die einzelnen historischen Stränge seit dem Bestehen des Gesamtterritoriums Jülich-Kleve-Berg (1521). Der mit der formellen Auflösung Preußens 1947 endende Abriss hat seinen Schwerpunkt im 19. Jahrhundert, das mit seinen vielfältigen wirtschaftlichen und sozialen Aspekten (Gewerbeordnung, Kinderschutz, Bildungswesen, Ausbau der Infrastruktur, Presse und Öffentlichkeit) dem Verständnis des heutigen Lesers sicher auch am zugänglichsten ist. Eine reiche Bildauswahl sowie die eingeschobenen übersichtlichen Zeittafeln ermöglichen einen leichten Zugang zu den komplexen Sachverhalten.
Eckhard Trox widmet sich im Folgenden dem märkischen Erbe innerhalb des an Preußen gefallenen Territorienkomplexes. Hierbei hebt er bestehende Forschungsdesiderate hervor, allem voran die mangelnde Kenntnis über den adligen Bevölkerungsanteil der Grafschaft Mark. Anhand von Jubiläen, insbesondere dem von 1859 und dem damit verbundenen Konflikt zwischen der adligen und Teilen der bürgerlichen Bevölkerungsschicht, aber auch der Feierlichkeit von 1909, gewinnt er Einblicke in die damaligen Mentalitäten und deren Veränderung, die das Preußenbild prägten.
Unter Bezugnahme auf einzelne Biographien thematisiert Maria Perrefort die Modernisierung der märkischen Stadt Hamm durch den preußischen Staat während des 18. Jahrhunderts. Sie behandelt die fortgesetzten staatlichen Eingriffe in kirchliche Belange, auch Spezifika wie den organisierten Umgang mit dem Feuerschutz, des Weiteren das städtische Schul- und Armenwesen, das erstmalige öffentliche Auftreten bürgerlicher Gesellschaften und die Verflechtungen von Stadt und Militär - wobei gerade eine Garnisonsstadt wie Hamm zur Bühne für daraus resultierende soziale Probleme geriet. Besondere Bedeutung kam für die Stadt der 1787 angesiedelten Provinzialverwaltung, der Kriegs- und Domänenkammer, zu.
Stephan Sensen beschreibt kurzweilig die überregional wahrgenommenen Streitigkeiten um den Wiederaufbau der Burg zu Altena in den Jahren 1906 und 1907. Die Vorgänge erweisen sich zum einen "ergiebig für ideen- und mentalitätsgeschichtliche Studien über die Epoche des ausgehenden Wilhelminismus" (157), insbesondere für das Selbstverständnis der damaligen märkischen Führungsschicht. Der auch aus heutiger Sicht historisch unreflektierten Idee, die Burg so herzurichten, wie sie in Mittelalter und Früher Neuzeit einmal ausgesehen haben könnte (dafür machte sich die Partei preußisch-märkischer Patrioten stark), traten Kritiker entgegen, die eine solche bauliche Geschichtsklitterung rundweg ablehnten (Historismuskritik). Die Auseinandersetzung verweise laut Sensen zum anderen erstmals auf "die Prinzipien der modernen Denkmalpflege, wie sie auch heute noch gültig sind" (175).
Analog zum Beitrag von Trox über die ehemalige Grafschaft Mark geht Gerhard Renda "Preußens Spuren in Minden-Ravensberg" nach. Er beschreibt die konfessionell sich überlagernden Verhältnisse, die innere Staatswerdung nach dem Dreißigjährigen Krieg und die Rolle des Militärs in der Gesellschaft über das Ende des Alten Reiches hinaus bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einem kurzen Ausblick ins Kaiserreich. Letzterer ist fokussiert auf die Geschichte der Textilindustrie, deren Inhaber ihre Verbundenheit gegenüber Preußen durch die Nachahmung von Baustilen offenlegten, die dort Anklang gefunden hatten. Während der Zugehörigkeit zum Königreich Westfalen und dann zur preußischen Provinz Westfalen verlief die Entwicklung etwa mit der Abschaffung der grundherrlichen Abgaben oder den aufkommenden demokratischen Strömungen kaum anders als in vergleichbaren Territorien.
Das Thema der Schill'schen Offiziere behandeln die letzten beiden Beiträge von Veit Veltzke und Martin Wilhelm Roelen. Der missglückte Versuch des unter seinen Zeitgenossen allbekannten Reiterführers Ferdinand von Schill, "mit seinem Regiment einen Krieg gegen Napoleon auf eigene Faust zu führen und einen Volksaufstand zu entfachen" (217), bot über die damit verbundene bloße heeresreformerische Dimension hinaus Anknüpfungspunkte für das entstehende bürgerliche, ja nationale Selbstverständnis und tauchte bis in die Gegenwart hinein immer wieder in ideologischen Debatten auf. Diese fanden bemerkenswerterweise in der ehemaligen DDR statt, wohingegen die Rezeption in Westdeutschland letztlich lokal beschränkt blieb. Roelen beleuchtet das wechselhafte Gedenken an Schill und teils auch die Instrumentalisierung dieses Ereignisses. 1809 waren die Offiziere des Schill'schen Korps nach ihrer Festsetzung von französischen Soldaten in Wesel hingerichtet worden. Bereits 1815 gab es in der Stadt Bestrebungen, ein Denkmal zu errichten. In der Zitadelle wurde Jahrzehnte später eine Gedenkstätte eingerichtet. Literarische Bearbeitungen folgten (u.a. 1934 'Schillfestspiele'), ebenso Sportveranstaltungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In der nationalsozialistischen Zeit wurde eine Vereinnahmung dieser Tradition intendiert, indem Ferdinand von Schill mit Leo Schlageter und Horst Wessel in eine Reihe gestellt wurde. Auch nach 1945 wurde die Erinnerung aufrecht erhalten, etwa als ein Kasernenneubau nach Schill benannt wurde.
Insgesamt stellt der mit ausführlichen Anmerkungen und Hinweisen versehene Sammelband eine gut lesbare und thematisch überlegte Zusammenstellung wesentlicher Aspekte des rheinisch-westfälischen Verhältnisses zu den preußischen Stammlanden dar, der sich nicht ausschließlich an ein Fachpublikum wendet. Die Forschungsleistungen liegen vornehmlich in der Untersuchung der Erinnerungskultur und ihrer mentalitätsgeschichtlichen Implikationen, weniger im Bereich institutioneller, sozialer und wirtschaftlicher Entwicklungen, die sich durch die Zugehörigkeit zu Preußen ergeben haben. Dabei wird allerdings klar herausgestellt, dass verschiedene Forschungsthemen noch der Bearbeitung harren.
Die Publikation ist - nicht zuletzt aufgrund ihrer Genese aus den einzelnen Ausstellungen - mit vielen aussagekräftigen und fast ausschließlich auch farbigen Abbildungen versehen. Die Lesefreude wird durch die gelegentlich zu kleinen (15, 27, 149 und 247, hier ist der Text praktisch unlesbar) Bilder kaum getrübt.
Olaf Richter