Boaz Shoshan: Damascus Life 1480-1500. A Report of a Local Notary (= Islamic History and Civilization; Vol. 168), Leiden / Boston: Brill 2020, X + 204 S., ISBN 978-90-04-41325-2 , EUR 99,00
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Seit 2007 liegt unter dem Titel at-Taʿlīq die vierbändige Edition eines Journals oder Tagebuches vor, das Ibn Ṭawq (1430-1509), gebürtig aus Jarūd (bei Damaskus, heute Jayrūd), vor mehr als fünfhundert Jahren geschrieben hat. [1] Mit gewohnter Gründlichkeit und hoher Qualität hat das Institut Français d'Études Arabes de Damas (IFEAD) das Werk veröffentlicht. Es beinhaltet die Alltagsnotizen eines wenig bekannten Damaszener Notars aus den Jahren 1480 bis 1502. Die Ausgabe basiert auf dem Autographen, der sich im Besitz der Maktabat aẓ-Ẓāhiriyya (Asad National Bibliothek Ms. 4533) befindet. Die Geschichte, wie dieser Text veröffentlicht wurde, ist ebenso bemerkenswert wie das Manuskript selbst: Der schiʿitische Kadi von Baalbek, aš-Šayḫ Jaʿfar al-Muhājir, der als Autor mehrerer historischer Werke über die Schiʿiten in Bilād aš-Šām bekannt ist, kam 1996 mit der Handschrift zum IFEAD. Er hatte von 1977 bis 1982 intensiv an dem Text gearbeitet. Als er sich wegen des libanesischen Bürgerkriegs entschloss, mit seiner Familie Beirut zu verlassen und sich in Baalbek niederzulassen, lenkte Ṯurayyā Kurd ʿAlī, der damals für die Manuskripte der Ẓāhiriyya-Bibliothek zuständig war, seine Aufmerksamkeit auf den Taʿlīq. Während des Krieges verbrachte er dann jeden Tag mehrere Stunden an seinem Schreibtisch, um die schwierige Schrift zu entziffern. Auf diese Weise entstand nach und nach ein Bündel von Papieren mit der Transkription des gesamten Textes, insgesamt etwa 1.800 Seiten. Sarab Atassi, der secrétaire scientifique am IFEAD, nahm sich des Manuskripts an und versprach, es in den folgenden Jahren zu veröffentlichen. Jaʿfar al-Muhājir hatte hervorragende Arbeit geleistet, wenn man bedenkt, dass sich Ibn Ṭawq häufig in der Volkssprache ausdrückt und es bekanntlich nur wenige Vorstudien zu diesem Thema gibt. Das Tagebuch selbst ist recht ungewöhnlich. Es enthält viele Informationen über alle Schichten der Gesellschaft, d.h. über die verschiedenen Kreise der Gelehrten, die Professoren der Medresen, die Ladenbesitzer, die ländliche Gesellschaft und die lokale Bevölkerung. Ibn Ṭawq konzentriert sich vor allem auf die Gruppen am Rande der städtischen Gesellschaft, die normalerweise nicht das Hauptthema der arabischen Geschichtsschreibung sind. Er schreibt über die Geschäfte des einfachen Mannes, das alltägliche Wirtschaftsleben, öffentliche Feste, Proteste gegen die Übergriffe der Obrigkeit und über organisierte Banden, die die Straßen unsicher machten.
Ego-Dokumente, "Selbstzeugnisse", und ihre Kategorisierung sind heute unter Historikern gut bekannt. Sie sind ein fruchtbares Forschungsfeld, so dass innerhalb der letzten zwanzig Jahre zahlreiche Monographien, Sammelbände und Aufsätze erschienen sind. Dieses Phänomen steht in engem Zusammenhang mit der historisch-anthropologischen Wende innerhalb der Geisteswissenschaften, die ihrerseits durch eine Konzentration auf mikrohistorische und "alltagsgeschichtliche" Ansätze eingeleitet wurde. Zu beobachten ist eine Rückbesinnung auf das (historische) Individuum und die epistemologischen Umstände seiner Vergesellschaftung. Es was bisher keine leichte Aufgabe für Mamlukolog*innen, die Weltanschauung, die Erfahrungen und die Emotionen eines Individuums zu identifizieren. Ibn Ṭawqs at-Taʿlīq bietet nun eine gute Gelegenheit dazu. 2014 veröffentlichte Torsten Wollina eine erste monographische Studie - seine an der FU Berlin verfasste Dissertation - über das Tagebuch des Damszener Notars. [2] Das Buch scheint leider nur mit Vorsicht zu genießen zu sein. Zumindest ist es von zwei Rezensenten nicht sehr positiv besprochen worden. [3]
Zum Glück liegt nun eine weitere Abhandlung vor. Geschrieben hat sie Boaz Shoshan, Emeritus an der Ben Gurion University of the Negev in Beersheva und Experte für mamlukenzeitliche Gender- und Alltagsgeschichte sowie für islamische Historiographie. Das Buch besteht aus sechs Kapiteln, in denen jeweils ein wichtiger Teilbereich der Damaszener Gesellschaft am Ende des 15. Jahrhunderts beschrieben wird. Auf eine sehr gute Skizze der direkten Lebenswelt des Autors ("Ibn Ṭawq, His Family, Household, and Close Friends", 19-37) folgt eine überaus interessante Darstellung des urbanen Lebens in der syrischen Provinzhauptstadt. ("Damascus ca. 1480-1500: A City in Crisis", 38-70) Die Umgestaltung der gesamten Lebenswelt im Verlauf des 15. Jahrhunderts bewirkte, dass sich in zunehmendem Maße Personen, die nicht der Elite angehörten, öffentlich artikulierten, um gegen Ungerechtigkeiten zu protestieren. Allgemeiner Unmut und Missbilligung der politischen und sozialen Verhältnisse artikulierte sich in mannigfaltigen Arten des Protestes. Er richtete sich vor allem gegen allzu große Veränderungen des von alters her Gewohnten, gegen zu Sündenböcken deklarierte Gruppen (etwa die Kopten) und natürlich gegen die Vertreter der Herrschaftselite. Aus Ibn Ṭawqs Tagebuch geht deutlich hervor, dass viele interne und externe Belastungen einen sehr hohen systemischen Stress in Damaskus erzeugten.
Eine besondere Beziehung hatte Ibn Ṭawq zu der schafiitischen Ibn Qāḍī ʿAjlūn-Familie. Immer wenn er dienstfrei hatte, nahm er an den Sitzungen seines Freundes Taqī al-Dīn Abū Bakr ibn ʿAbd Allāh (gest. 1521), der als Mufti zu einigem Ansehen in der Stadt gekommen war, teil. Boaz Shoshan führt uns mittels der von Ibn Ṭawq zum Teil minutiös präsentierten Informationen ausgezeichnet in die Welt der Gelehrten ein. Es geht, wie immer in diesen Zirkeln, möchte man sagen, weniger um Wissenschaft, sondern mehr um Anerkennungssucht, Neid, Rivalität, Narzissmus und Hybris... ("The Shaykh al-Islām: A Giant in an Embattled World of Scholars", 71-101) Gegenstand des nächsten Abschnittes ist die Damaszener Mittelschicht. ("Bourgeois Fortunes", 102-122) Das Tagebuch gestattet uns wertvolle Einblicke in die wirtschaftlichen (und auch familiären) Angelegenheiten wohlhabender Einwohner. Kapitel 5 offeriert uns dann eine spannende Studie der Funktionsweise des mamlukenzeitlichen Rechtssystems. ("The Court: Dispute and Crime", 123-147) Shoshan beginnt mit der Schilderung von finanziellen Streitigkeiten und den Verfahren, mit denen sie gelöst wurden. Anschließend wendet er sich der kriminellen Szene zu, wo es um Mord und Totschlag, Diebstahl und religiöse Vergehen und deren Bestrafungen geht. Insgesamt entsteht das Bild einer Stadt, die permanent von kriminellen Aktivitäten heimgesucht wurde. In einem solchen Kontext kollaborierten (und konkurrierten!) die mamlukischen Machthaber mit den Juristen. Beide Seiten wollten letzten Endes die Kontrolle über das Rechtssystem erlangen.
Der letzte Teil des hier zu besprechenden Werkes ist der Familie gewidmet. ("The Family: Marriage, Divorce, and the Household", 148-190) Anhand vieler spannender Fallbeispiele gelingt es Shoshan, dem Leser/der Leserin ein facettenreiches Bild gewöhnlicher Ehen zu präsentieren, wobei er sich auf die beiden Eckpunkte "Heirat" und "Scheidung" konzentriert. Etwas kurz fällt, wie ich finde, das Unterkapitel über den Familienhaushalt aus.
Alles in allem hat Boas Shoshan eine sehr informative Auswertung von Ibn Ṭawqs at-Taʿlīq vorgelegt, die uns überzeugend in die Lebenswelten eines durchschnittlichen Damaszener Einwohners einführt und damit ein ausgezeichnetes Soziogramm der Stadt liefert. Das kann allerdings nur der Anfang sein. Der immense Stoff des Tagebuches reicht sicherlich noch für zahlreiche weitere mentalitäts- und alltagsgeschichtliche Studien.
Anmerkungen:
[1] Die folgenden Informationen finden sich auch in Stephan Conermann / Tilman Seidensticker: "Some Remarks on Ibn Ṭawq's (d. 915/1509) Journal al-Taʿlīq", in: Mamlūk Studies Review 11/2 (2007), 121-136.
[2] Torsten Wollina, Zwanzig Jahre Alltag. Lebens-, Welt- und Selbstbild im Journal des Aḥmad Ibn Ṭawq, Göttingen: V&R unipress 2014.
[3] Siehe die Rezensionen von Boaz Shoshan, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 7/8 [15.07.2015], URL: http://www.sehepunkte.de/2015/07/27502.html und (besonders negativ) von Boris Liebrenz, in: Der Islam 92 (2015), 552-557.
Stephan Conermann