Joseph Imorde: Affektübertragung, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2004, 760 S., 22 Abb., 5 farb. Beilagen, ISBN 978-3-7861-2503-7, EUR 48,00
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Zucker, lateinisch Saccharum war und ist ein kostbares Gut. In der Vergangenheit, weil er anders als der Honig aus natürlichen Rohstoffen erst gewonnen werden musste und dies bis zur Entwicklung industrieller Raffinerieverfahren kostspielig und mühsam war. Heutzutage, weil es der Zuckerersatzstoffindustrie trotz intensivster Bemühungen nicht zu gelingen scheint, den singulären Reiz, den natürliche Mono- und Disaccharide in den menschlichen Geschmacksrezeptoren auslösen, in ausreichend sinnestäuschender Form nachzubilden. Vielmehr hinterlassen viele der künstlichen Süßstoffe einen bitteren Nachgeschmack. Im übertragenen Sinn hat man das auch für eine spezielle Form religiöser Bilder behauptet, die im englischen Sprachgebrauch nicht umsonst den Beinamen "saccharine" tragen. Die Rede ist von Bildern, die ihren Gegenstand in zartem sfumato und pastelltonigen Farben zur Darstellung bringen, häufig kombiniert mit einer Wiedergabe intensiver Gefühlsregungen, allen voran tränenreicher Verzückung oder Schmerzgebärden. Als ein Künstler, zu dessen Markenzeichen solche 'süßlichen' und emotionsgeladenen Marien-, Christus- und verschiedene Heiligenbilder gehörten und dessen Namen insofern auch Programm war, ist der Florentiner Seicento-Maler Carlo Dolci zu nennen. Nicht von ungefähr steht daher sein Werk, dessen Rezeptionsgeschichte im besten Fall wechselhaft genannt werden kann, in dem Buch 'Affektübertragung' von Joseph Imorde symptomatisch für eine spezielle Dimension religiöser Bildwelten im Barock, der er unter dem Stichwort von 'Übertragungsformen' und verstanden als Beitrag zu einer historischen Emotionsforschung nachgeht.
Einfallslosigkeit in Fragen der Buchgestaltung - und eine Vorbemerkung hierzu ist schlichtweg nicht zu vermeiden - kann man dem Autor (und Verleger in Person) kaum vorwerfen: In Form und handlichem Format, mit roter Plastikummantelung und verschiedenfarbigen Einmerkbändchen, erinnert das Buch an den Typ des katholischen Gotteslobs, wie er seit den 1970er Jahren verbreitet ist; die Farbabbildungen sind in Art von Heiligenbildchen eingelegt. Die einzelnen Kapitel gehen auf eine Vorlesungsreihe zurück, was angesichts gelegentlicher Wiederholungen (67f./118), auch im wissenschaftlichen Apparat (I, FN 34/36) nicht ganz unbemerkt bleiben kann, inhaltlich aber in einem gelungenen Spannungsbogen resultiert: Die ersten beiden Kapitel setzen wissenschaftshistorisch bei den Anfängen der kunstgeschichtlichen Barockforschung im ausgehenden 19. Jahrhundert ein und zwar bei dem Part, der sich aus unterschiedlichen Gründen schwergetan hat mit dem emotionalen 'Wesen des Barock'. Es folgt ein historischer Teil, der um das Problem religiöser Affektspektren und deren Übertragung vermittels Kunst kreist und in einem Ausblick auf aufklärerische Umdeutungen endet, also in gewisser Weise den Kreis zum Anfang schließt.
Dass die frühe Barockforschung ein eher ambivalentes Verhältnis zu ihrem Gegenstand und speziell dessen 'Gefühlswelt' hatte, wird im ersten Kapitel deutlich, in dessen Zentrum Heinrich Wölfflin steht. Wie der Autor ausführt, hatte sich dieser in seiner Habilitationsschrift 'Renaissance und Barock' bemüht, über eine systematische Formanalyse nicht nur Beschreibungskategorien für den Barockstil zu finden, sondern auch eine Erklärung für den Stilwandel, den er - einfühlungsästhetisch - auch an einer allgemeinen Veränderung des Körperempfindens festmacht. Bei der anschließenden Analyse erweist sich Wölfflins vermeintlich historische Perspektivierung jedoch als Trugschluss und seine zum Negativen tendierende Charakterisierung des Barock eher dem Eindruck einer der persönlichen Disposition widersprechenden, als pathologisch empfundenen Aufgeregtheit der eigenen Zeit geschuldet. Einer zum Neurasthenischen hingezogenen Stimmung begegnet man dagegen im zweiten Kapitel, das von Erklärungsversuchen für religiöse Erregungszustände der Zeit um 1900 handelt. Ausgangspunkt bilden die autobiografischen Aufzeichnungen von John Addington Symonds, Autor einer Michelangelo-Biografie und Verfasser einer siebenbändigen Arbeit über Renaissance in Italien, in denen dieser eine Reihe von Erscheinungen religiöser Natur schildert. Ihrer Deutung nahmen sich rasch die Humanwissenschaften an, mit der Folge, dass man deren Sicht auf die Dinge auch zum Maßstab für die Phänomene früherer Jahrhunderte machte, also Zustände frühneuzeitlicher Visionäre für (geistes-)krankhaft erklärte. Dieser aufschlussreichen Vorgeschichte stellt Imorde in den folgenden Kapiteln eine historisch argumentierende und kulturhistorisch ausgreifende Analyse der Zeit um 1600 gegenüber, in der er sich mit Fällen von tränenreichen Zuständen von Meditation und Ekstase beschäftigt und darlegt, dass sie in zeitgenössischen Frömmigkeitsvorstellungen (68f.) und rhetorischen Praktiken gemäß dem Horazschen 'vis-me-flere-Motto' aufgehoben waren (85-104). Entsprechend sollten sich die intensiven Gottesbegegnungen von leibhaftigen Personen, etwa aus dem Umkreis von Kapuzinern, Jesuiten und dem päpstlichen Hof, aber auch von Darstellungen der büßenden Maria Magdalena oder des reuigen Petrus in Literatur, Musik und bildender Kunst durch zeichenhafte Wendung nach außen auf den Betrachter übertragen (111). Gehäuft nun finden sich solcherlei Empfindungen in einer Metaphorik des Geschmacks beschrieben, bei der das 'Kosten des Süßen' eine zentrale Rolle spielt (120): 'Süßigkeit war der immer wieder gebrauchte Begriff, wenn es darum ging, starkes inneres Empfinden als Gotteserkenntnis metaphorisch zu markieren. Alle Heiligen zeichnete die besondere Befähigung für den hier angesprochenen gustus mysticus oder gusto spirituale aus, alle hatten ein hervorragendes Sensorium für die Süßigkeit Gottes, das heißt für eine kostende cognitio experimentalis [...]." Auch im Bereich der Kunst lassen sich Beispiele ausmachen, die den Betrachtern ebensolche "süßen Früchte des christlichen Glaubens darreichen" und ihm erfahrbar machen wollen (123), wie der Autor nicht nur am Beispiel des eingangs erwähnten Dolci und vergleichbarer Vertreter ausführt, sondern auch für eine bestimmte Form zeitgenössischer Kunsttheorie zeigt, die sich neoplatonisch-christlicher Inspirationsmodelle bedient (z.B. Lomazzo, Romano Alberti, Federico Zuccari) und den Künstler zu einem von Gott befähigten Instrument der Gnadenvermittlung ernennt.
Freilich sind auch gegenläufige Entwicklungen und Auflösungstendenzen zu beobachten. Zu nennen ist hier einmal die Umbewertung der persönlichen Heilserfahrung im Zuge konfessioneller Ausdifferenzierung, für die Imorde im protestantischen Bereich eine stärker mit haptischen Metaphern verbundene Begrifflichkeit (Rührung, Erschütterung etc.) beobachtet (130-132). Aber auch die wissenschaftliche bzw. pseudowissenschaftliche Entzauberung der barocken Verzückungszustände (Kap. VI) wird für den Niedergang der sinnlichen Komponente von Gnadenerfahrung verantwortlich gemacht. Wenn schließlich, wie das letzte Kapitel ausführt, Ergriffenheit und Empfindung in den Arbeiten von Sulzer oder Lessing zentrale Motive sind, die ihre Herkunft nicht verleugnen können, ist der Bruch dennoch vorgezeichnet: Sie bleiben nur in ungefährem Bezug zu ihren Wurzeln und erscheinen in erster Linie als Kunstübung, die keinen Anspruch mehr darauf erhebt, eine vom Autor "ins Werk gelegte Eigenempfindung" (285) zu sein.
Die große Stärke des Bandes liegt darin, auf der Grundlage einer breiten Kenntnis des frühneuzeitlichen und vormodernen Quellen- bzw. Materialbestandes ein kultur-, aber auch kunsthistorisches Phänomen inklusive eines möglichen methodischen Zugriffs wirkungsvoll in den Blick gerückt zu haben. Gelegentlich gewinnt die Argumentation etwas schnell an Geschwindigkeit, manche Stelle lädt durchaus zum Weiterdenken ein, beispielsweise diejenige zu den konfessionellen Unterschieden. So könnte man etwa fragen, wie und wo es einzuordnen ist, dass die Herrnhuter Kirchengemeinde, die prominent als Gegenbeispiel aufgerufen wird, nicht nur eine ganz deutliche Metaphorik der Süße kennt, sondern sogar eine ausgesprochen sinnliche Verkostung von Süßigkeit in Form von Rosinenbrötchen und stark gesüßtem Tee, die zum Agapemahl als "geschmackvolle Variante des Abendmahls" und Vorgeschmack auf himmlische Freuden gereicht werden. [1] Aber auch wenn Imordes Untersuchung Stoff und Anregung genug liefert, die Frage auf andere Gebiete bzw. Zeiten auszudehnen, bietet sie doch weitaus mehr als nur einen Vorgeschmack auf das Thema, sondern überträgt auf den Leser ein geistreiches wie sinnliches Bild des Barock.
Anmerkung:
[1] Vgl. Frank Hiddemann: Blutgenuss und Bilderfluten. Protestantische Blutmotive von der Reformation bis in die Gegenwart, in: Anja Lauper (Hg.): Transfusionen. Blutbilder und Biopolitik in der Neuzeit, Basel / Berlin 2005, 85-96, hier 93.
Gabriele Wimböck