Rezension über:

Roger Chickering: Krieg, Frieden und Geschichte. Gesammelte Aufsätze über Patriotischen Aktionismus, Geschichtskultur und totalen Krieg (= Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte; Bd. 21), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2007, 355 S., ISBN 978-3-515-08937-1, EUR 52,00
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Rezension von:
Susanne Brandt
Historisches Seminar, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Susanne Brandt: Rezension von: Roger Chickering: Krieg, Frieden und Geschichte. Gesammelte Aufsätze über Patriotischen Aktionismus, Geschichtskultur und totalen Krieg, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2007, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 6 [15.06.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/06/13318.html


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Roger Chickering: Krieg, Frieden und Geschichte

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Mit diesem Sammelband präsentiert der an der Georgetown University in Washington deutsche und europäische Geschichte lehrende Roger Chickering 21 Aufsätze, die er zwischen 1973 und 2005 publiziert hat. Gut die Hälfte der Beiträge erscheint erstmals in deutscher Sprache. Chickering versammelt hier Texte, die er - neben den Monografien - für die Eckpunkte seiner Laufbahn hält (9). Der Leser erhält damit die Möglichkeit, Aufsätze, deren Erstveröffentlichung zum Teil schon mehr als 30 Jahre zurückliegt, erstmals oder neu zu lesen. Vor allem aber kann er auf dem überschaubaren Raum von rund 350 Seiten in das Gesamtwerk des amerikanischen Historikers eintauchen. Denn die Beiträge spiegeln die Themen wider, denen sich der Verfasser zeit seines Forscherlebens widmete: Zunächst einmal waren es die Vaterländischen Vereine im Deutschen Kaiserreich, die sein Interesse auf sich gezogen haben. Allein neun Beiträge beschreiben die Vereine und grenzen diese voneinander ab. Chickering zeichnet nach, wie sich die Alldeutschen den Krieg der Zukunft vorstellten und gezielt für ihn Stimmung machten. Und der Leser kann verfolgen, wie das Thema für den Verfasser immer größere Kreise zog, wie er den Blick von Deutschland ausweitete und Vereine in Großbritannien und Frankreich in einen Vergleich einbezog. Dabei kommt er zu klaren Thesen über das Wesen des autoritären politischen Systems in Deutschland mit seinem deutlichen Mangel an demokratischen Strukturen. Hier konnten sich pressure groups zu einflussreichen und unberechenbaren Einflussfaktoren auf die öffentliche Meinung etablieren.

Chickering hatte sich zu Beginn der 70er Jahre diesem Thema zugewandt, nachdem er sich in seiner Dissertation mit der pazifistischen Bewegung im Deutschen Kaiserreich beschäftigt hatte. Er fragte sich, wieso eine Bewegung, die so hellsichtig die Schrecken des realen Krieges vorhergesehen hatte, politisch so folgenlos bleiben konnte. Als eine Ursache machte er die Vaterländischen Verbände aus, die er als radikalnationalistische Gegenspieler des Pazifismus bezeichnete. Das Thema des Ersten Weltkrieges zeichnete sich also - wenn auch oft subkutan - schon früh in seinen Arbeiten ab. Konsequent weitete Chickering sein Forschungsinteresse auf den Krieg aus. Die Frage danach, was der totale Krieg sei, war gekoppelt an ein ehrgeiziges Ziel: Der Verfasser war überzeugt, sich dem totalen Krieg nur mit einem umfassenden Ansatz stellen zu können. Er war fasziniert von der Vorstellung einer histoire totale (12). Die Idee hatte er von dem deutschen Historiker Karl Lamprecht übernommen - dessen gescheiterten Versuch einer umfassenden Darstellung wollte er erfolgreich realisieren. Lamprecht - der Chickering schon als Alldeutscher und Pazifist aus früheren Arbeiten vertraut war - fesselte den amerikanischen Historiker so sehr, dass er sich intensiv mit dessen Biografie auseinandersetzte. Damit ist das dritte Feld genannt, dem sich Chickering immer wieder zuwandte, die Biografie. Einer der 21 Aufsätze widmet sich dem deutschen General und Urheber der Dolchstoßlegende, Erich Ludendorff. Unter der Überschrift "Ludendorffs letzter Krieg" charakterisiert der Autor dessen Versuch der Selbstrechtfertigung als letzte Kampfhandlung (314). Im Verlauf seiner Forschungen, die das Deutsche Kaiserreich, den Ersten Weltkrieg und den totalen Krieg umkreisten, wandte er sich nach eigenen Worten kurzfristig dem psychohistorischen Ansatz zu. Der Sammelband macht deutlich, warum Chickering sich auf neues Terrain begab: Immer wieder stieß er bei seinen Forschungen auf Fragen, die er mit den vertrauten historischen Methoden nicht hinreichend beantworten konnte, etwa die Angst der Mitglieder der Patriotischen Vereine vor dem sozialen Abstieg (174) oder das besessen verfolgte Ziel des deutschen Generals, die Schuld an der militärischen Niederlage anderen zuzuschieben.

Es gehört zu den Stärken des Sammelbandes, dessen Beiträge sich allesamt durch einen klaren Aufbau, eindeutig formulierte Thesen und eine präzise Sprache auszeichnen, dass es dem Leser ermöglicht wird, sich einzuarbeiten in das Netzwerk von Chickerings Leitfragen und Ergebnissen. In welchem Maße er in dem mehr als dreißigjährigen Zeitraum auf seinem Forschungsfeld Fortschritte machte, spiegelt besonders der letzte Aufsatz mit dem Titel "Tod in Freiburg 1914-1918" wider. Der Verfasser ermittelt zunächst einmal akribisch die Zahl der Toten. Im Krieg, wie er ihn bloß zu legen versucht, starben nicht nur Soldaten, sondern auch Zivilisten an den Folgen des kriegsbedingten Mangels. Der Verfasser gibt sich nicht damit zufrieden, exakte Todeszahlen liefern zu können und zu berechnen, wie viele Haushalte im Durchschnitt einen Gefallenen zu beklagen hatten. Sein Interesse gilt auch den vielfältigen Formen der Verarbeitung des Massentodes. Dazu zählt für ihn gleichermaßen das seit 1915 wirksame Verbot der Veröffentlichung von Gefallenenlisten wie auch Todesanzeigen. In ihnen findet der Autor eine Quelle, die Aufschluss geben kann, wie die Hinterbliebenen aus unterschiedlichen religiösen und politischen Milieus den Kriegstod gedeutet haben. Dass der Historiker ein routinierter und gründlicher Archivarbeiter ist, belegen alle Beiträge, besonders aber dieser jüngste Aufsatz. Chickering presst auch noch aus auf den ersten Blick kleinen Details Erkenntnisse. Er berichtet davon, wie der Mangel an Textilien zu einer öffentlichen Angelegenheit wurde: Das Verbot, die Toten in neuen Kleidungsstücken zu bestatten und die Aufforderung an die Hinterbliebenen, die eigene Trauer mit einem schmalen Krepppapierstreifen an der Kleidung zu zeigen (321), sind kleine aber aussagekräftige Hinweise darauf, in welchem Maße der Krieg das Leben aller beeinflusste und in der Folge die Autorität der politischen Institutionen untergrub. Solche Details verdeutlichen, wie die Vision der histoire totale umgesetzt werden kann, selbst bei einem lokalhistorischen Thema.

Drei Wermutstropfen beeinträchtigen das Vergnügen der Lektüre des Sammelbandes: Vor allem ist es die (unbeantwortete) Frage danach, was inzwischen von der neueren Forschung geleistet wurde: In welchem Maße stellten seine Untersuchungen fruchtbare Impulse dar? Bestätigt, differenziert oder korrigiert die neue Forschung Chickerings Thesen? Ein Sammelband, der auch Beiträge, die älter als 30 Jahre sind, erneut veröffentlicht, sollte das leisten. Der Verfasser erklärt, dass er die Beiträge im Wesentlichen unverändert gelassen habe. Lediglich in vier (!) Fußnoten nennt er aktuelle Publikationen (13), die an seine Arbeiten anknüpfen, doch eine Bewertung dieser Forschung unterbleibt. Für einen Leser, der kein "alter Hase" ist und sich mit diesen Themen nicht bestens auskennt, ist das ein echter Mangel. Er kann die Aufsätze nicht ohne die jüngeren Veröffentlichungen verwenden, um den aktuellen Forschungsstand zu erreichen. Dabei wäre dieser Dienst leicht zu leisten gewesen. Die beiden anderen Mängel des Sammelbandes sind zwar weniger gravierend, aber dennoch schmerzhaft: Vergeblich sucht der Leser nach einem umfassenden Literaturverzeichnis und einigen biografischen Angaben. Ein Sammelband, der so explizit einen Überblick über das Schaffen des Verfassers bieten will und fast autobiografische Züge trägt, sollte dem Nutzer Informationen zum Leben und Wirken des Verfassers nicht vorenthalten. Bescheiden und uneitel, wie sich der Autor in den Beiträgen zeigt, hätte er mit dieser Aufgabe vielleicht einen Wegbegleiter betrauen sollen.

Susanne Brandt