Aleksandr Fursenko / Timothy Naftali: Khrushchev's Cold War. The Inside Story of an American Adversary, New York: W.W. Norton & Company 2006, 640 S., ISBN 978-0-393-05809-3, USD 35,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Bernd Greiner / Tim B. Müller / Klaas Voß (Hgg.): Erbe des Kalten Krieges, Hamburg: Hamburger Edition 2013
Jonathan Gorry: Cold War Christians and the Spectre of Nuclear Deterrence, 1945-1959, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2013
Bernd Stöver: Die Befreiung vom Kommunismus. Amerikanische Liberation Policy im Kalten Krieg 1947-1991, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002
Vladislav Zubok: A Failed Empire. The Soviet Union in the Cold War from Stalin to Gorbachev, Chapel Hill, NC / London: University of North Carolina Press 2007
James Graham Wilson: The Triumph of Improvisation. Gorbachev's Adaptability, Reagan's Engagement, and the End of the Cold War, Ithaca / London: Cornell University Press 2014
"Konterrevolution oder Fortschritt in der Archivpolitik?" - so überschreibt der aktuelle (20.) Internationale Newsletter der Kommunismusforschung Online seine Sektion zu Diskussionen, Debatten und Historischen Kontroversen und meint die russische Archivlandschaft. [1] Diese stellt sich, je nach Thematik, sehr uneinheitlich dar - die russische Archivpolitik ist nicht unbedingt stringent, doch werden ihre Chancen außerhalb einer viel zu kleinen Forschergemeinde häufig immer noch schlicht unterschätzt. Es ist indes kein Geheimnis, dass die Geschichte der internationalen Beziehungen der UdSSR, insbesondere diejenige nach 1945, ein aufgrund russischer Traditionspflege vermintes und daher archivpolitisch schwieriges Terrain ist. Schwierig, aber durchaus nicht hoffnungslos: Davon zeugt nicht zuletzt der hier angezeigte Band. [2] Die Monografie von Fursenko und Naftali wertet vorrangig die protokollartigen Notizen aus, die Chruščev während der (meisten) Sitzungen des höchsten Parteiorgans, des ZK-Präsidiums der KPdSU, anfertigen ließ; es ist im Übrigen bedauerlich, dass diese wichtige Quelle bislang keinen Übersetzer gefunden hat. [3]
Der Zugriff auf neue Archivalien birgt natürlich stets die Gefahr, die Funde zu dramatisieren. Ihr können sich auch Naftali / Fursenko in ihrer Studie, die wie ihr partieller Vorgänger "One hell of a gamble" [4] äußerst anregend und flüssig geschrieben sowie bei aller Liebe zum Detail zielstrebig durchkomponiert ist, nicht ganz entziehen. So überschätzt ihre einführende Interpretation einer Chruščev-Rede vom 8. Januar 1962 sicherlich deren strategischen Gehalt, wie im weiteren Verlauf der Darstellung deutlich wird (5 f., 414 f.). Noch größer ist die Gefahr einer gewissen Verabsolutierung der neu genutzten Quellen, die zu inneren Widersprüchen führen kann. Es spricht tatsächlich alles dafür, Chruščev einen sich über die Jahre hinweg immer deutlicher artikulierenden Alleinvertretungsanspruch für die sowjetische Außenpolitik zuzuschreiben. Damit steht man aber vor dem Problem, anhand der Präsidiumsprotokolle kaum den ganzen "Chruščev'schen Kalten Krieg" bzw. dessen Höhepunkte adäquat erfassen zu können. Die Unruhen von Novočerkassk 1962, die ganz wesentlich zur ideologischen Verhärtung des Kreml beitrugen, sind beispielsweise gar nicht erwähnt. Noch auffallender ist es, dass etwa der chinesische Faktor in der Darstellung merkwürdig blass bleibt, obwohl die Taiwankrisen 1955 und 1958, der tibetanische Aufstand 1959 oder ganz generell Chinas Konzeption einer Dritte-Welt-Politik direkten Einfluss auf Chruščevs Aktivitäten hatten. Und schließlich bleiben beim Leser trotz aller Vehemenz der Beschreibung durchaus Zweifel bestehen, ob denn der Kreml respektive Chruščev den Ereignissen im Irak tatsächlich ein so ungleich höheres Gewicht beimaß als etwa dem Bürgerkrieg im Kongo, war Letzterer doch immerhin ein Grund für die wilden Attacken auf UN-Generalsekretär und -strukturen. Auf diese Weise liest sich die Studie als komplementärer Beitrag zur Geschichte des Kalten Kriegs in den 1950er- und 1960er-Jahren, nicht aber als seine Gesamtdarstellung aus sowjetischer Perspektive.
Daneben verliert die besondere Konzentration auf Chruščevs Wagemut den Stellenwert oder auch das Spannungsverhältnis paralleler Ansätze aus den Augen. Der ideologische und wirtschaftspolitische Wettstreit der Systeme wurde von der UdSSR seit Mitte der 1950er-Jahre in der Dritten Welt aktiv betrieben. Hier konnte die Kombination spezifischer Bedürfnisse der neuen Staaten mit den sowjetischen wirtschaftlichen Schwächen ihrerseits zu stark militärisch geprägten Beziehungen führen, die letztlich mit einer globalen Demilitarisierung unvereinbar waren. Die unverbrüchliche Hoffnung Chruščevs auf wirtschaftliche Durchschlagskraft und Vorbildwirkung seines Staats, die im Übrigen die wesentliche Grundstimmung der bereits angesprochenen Rede vom 8. Januar 1962 ausmachte, war aufs Ganze gesehen eine ideologische Fixierung, die gleichermaßen zu Vabanquespielen wie zu realpolitischen Konzessionen anhalten konnte - Chruščev hat sich hier nie festgelegt und entschied sich im Verlauf seiner Amtszeit sowohl für die eine als auch für die andere Option.
Erstaunlicherweise wurde sein Glaube an die systeminhärente Überlegenheit der UdSSR auch nicht durch die faktischen Notlagen in der UdSSR erschüttert. Naftali / Fursenko lenken in ihrer Nachzeichnung der Präsidiumsdiskussionen immer wieder die Aufmerksamkeit auf die enge Verwobenheit innenpolitischer und außenpolitischer Entwicklungen. Diese Verschränkung zeigt sich u. a. beim sukzessiven Aufstieg Chruščevs zur auch für die sowjetischen internationalen Beziehungen maßgeblichen Persönlichkeit. Wie schon in den letzten Tagen Berijas, so lassen sich auch nach 1953 außenpolitische Entscheidungen mitunter nur schwer vom innersowjetischen Machtkampf isolieren. Naftali / Fursenko zeigen aber überzeugend, dass sich die entsprechenden Diskussionen nicht auf derlei Machtkämpfe reduzieren lassen: Das gilt in besonderem Maße für den mäßigenden Einfluss Mikojans während der Berlin- und der Kubakrise. Diese beiden Höhepunkte waren indes nur die letzten Kulminationen des Kalten Kriegs unter Chruščev. Die Autoren arrangieren ihre Erzählung sowjetischer Risikostrategie nach der bereits erwähnten Darstellung des Aufstiegs Chruščevs zur außenpolitischen Schlüsselfigur entlang der Suezkrise 1956, des Umsturzes im Irak 1958, der Spannungen um Berlin ab 1958 und der versuchten Stationierung sowjetischer Atomsprengköpfe auf Kuba 1962. Das sowjetische Engagement im Kongo und die Politik gegenüber Laos Anfang der 1960er-Jahre runden die spannungsgeladene Darstellung ab. Schon diese Zusammenstellung macht deutlich, dass die internationalen Ereignisse nicht nur 1956 (Polen, Ägypten und Ungarn), sondern auch danach die entscheidenden Akteure kaum zu Ruhe kommen ließen.
Zudem steht bereits der kurze Suezkrieg für die potenzielle Bedeutung von Initiativen und Eigenständigkeiten Dritter. Das galt nicht nur für die "jungen" Staaten der Dritten Welt, unter denen Nassers Ägypten in hohem Maße nationales Selbst- und Sendungsbewusstsein auf der einen und Hilfsbedürftigkeit auf der anderen Seite verkörperte, sondern auch für Verbündete mit eigenen Ansichten. Angesichts dieser strukturellen Ähnlichkeiten der Lager entwickelten die Supermächte mitunter überraschende Parallelinteressen. Grundsätzlich gehen die Autoren aber bezüglich der direkten Interessenschwerpunkte und Auseinandersetzungen von einer hohen Handlungsautonomie Moskaus (und Washingtons) aus. Die Schilderung der Berliner Krisen geht daher kaum auf ostdeutsche Befindlichkeiten ein. Fidel Castro wiederum gewinnt erst nach der sowjetisch-amerikanischen Einigung über den sowjetischen Raketenabzug von Kuba mit eigenen Forderungen an Profil. Gerade diese beiden zentralen Kollisionen in Berlin und Kuba zeichneten sich in unterschiedlicher Ausprägung nicht nur durch variabel motivierte, doch fundamentale und tief sitzende Dispositionen zur Fehlwahrnehmung auf beiden Seiten aus, die durch verquere Informationen von Geheimdiensten eher verstärkt als zerstreut werden. Naftali und Fursenko machen an vielen Stellen mit wünschenswerter Klarheit deutlich, dass die Konfrontationen tatsächlich unvereinbaren Konzeptionen und Interessen entsprangen.
Die Monografie von Fursenko / Naftali bekräftigt schließlich erneut eindringlich die Erkenntnis von der Anfälligkeit vermeintlich durchdachter Manöver oder losgetretener Ereignisketten für Zufälle und Unwägbarkeiten: Der Abschuss des amerikanischen Spionageflugzeugs U-2 am 1. Mai 1960 ist beileibe nicht das einzige oder brisanteste Beispiel hierfür (492). Dass weder derartige Weckrufe noch das Wissen um das beiderseits angehäufte Zerstörungspotenzial den Kalten Krieg beendeten, weist auf die tiefen und multidimensionalen Antagonismen zwischen Ost und West zurück. Doch auch wenn sich die Jahre 1954 bis 1964 daher kaum als "Chruščevs Kalter Krieg" resümieren lassen, zeigen sie doch die ausgeprägte Mitverantwortung des sprunghaften Kreml-Chefs für den wechselvollen Verlauf der Systemkonkurrenz.
Anmerkungen:
[1] Vgl. die Ankündigung der Nr. 20 unter http://www.mzes.uni-mannheim.de/projekte/JHK-news/Newsletter/Newsletter.htm.
[2] Aleksandr A. Fursenko hat sich in einer eigenen Arbeit auf die Suez-, Berlin- und Kubakrisen konzentriert: Aleksandr A. Fursenko: Rossija i meždunarodnye krizisy. Seredina XX veka, Moskau 2006.
[3] Aleksandr A. Fursenko (Hg.): Prezidium CK KPSS 1954-1964, Band 1: Černovye protokol'nye zapisi zasedanij. Stenogrammy, Moskau 2003. Band 2 der auf drei Bände angelegten Publikationsreihe enthält Präsidiumsbeschlüsse der Jahre 1954-1958: Aleksandr A. Fursenko (Hg.): Prezidium CK KPSS 1954-1964, Band 2: Postanovlenija 1954-1958, Moskau 2006. Die diskutierte Passage vom 8.1.1962 findet sich in Band 1 auf Seite 545 f.
[4] Aleksandr A. Fursenko / Timothy Naftali: "One hell of a gamble": Khrushchev, Castro, Kennedy, and the Cuban missile crisis 1958-1964, London 1997.
Andreas Hilger