Urs Altermatt / Mariano Delgado / Guido Vergauwen (Hgg.): Der Islam in Europa. Zwischen Weltpolitik und Alltag (= Religionsforum; Bd. 1), Stuttgart: W. Kohlhammer 2006, 357 S., ISBN 978-3-17-019531-8, EUR 34,00
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Der hier anzuzeigende Band ist hervorgegangen aus einer Tagung des Religionsforums der Universität Freiburg i. Ue. vom Dezember 2005. Die 21 Artikel sind in fünf Teile gegliedert: 1) Zwischen Weltpolitik und Alltag, 2) Islamophobie im Westen?, 3) Hermeneutik heiliger Schriften, 4) Menschenrechte, 5) Religionsrecht und Religionsfreiheit; das komplette Inhaltsverzeichnis findet sich online hier: http://swbplus.bsz-bw.de/ bsz25553566xinh.pdf.
Dass ein Tagungsband so schnell erscheint, ist eher die Ausnahme, aber die ist leider nicht umsonst zu haben: offensichtlich wurden die eingesandten Beiträge weder einer inhaltlichen Prüfung unterzogen noch sonstwie überarbeitet, sondern schlichtweg eins zu eins abgedruckt. Etliche Artikel wurden aus dem Englischen oder Französischen übersetzt, was nicht in jedem Falle elegant gelungen ist, so manche Zusammenfassung am Ende eines Aufsatzes ist nur bedingt brauchbar, und die Zahl der stehengebliebenen Druckfehler ist erheblich. Einige Beiträge schließlich hätten schlicht abgelehnt werden müssen. Das alles macht keinen besonders guten Eindruck und nährt den Verdacht, dass es wieder einmal, wie so oft bei derart heterogenen Konferenzbänden, auch darum ging, möglichst schnell eine Publikation auf den Markt zu werfen, die auf der Modewelle "Islam in Europa" mitsurfen kann und die Autoren mit einem prompten Eintrag im Publikationsverzeichnis erfreut.
Längst nicht alle Artikel sind originell zu nennen. Das ist bei Konferenzen dieser Art auch nicht zu erwarten, aber man fragt sich denn doch, ob es unbedingt nötig ist, Aufsätze zu publizieren, die kaum über den 20-minütigen Vortrag hinausgehen. Das gilt für die Beiträge von Stéphane Lathion, Taieb Baccouche, Hasan Karaca und Ömer Özsoy ebenso wie für Arnold Hottingers Überblick über die "Gründe des Terrorismus unter islamischem Vorwand'". Letzterer ist das Musterbeispiel eines durchaus routinierten Vortrags, den der Autor so oder so ähnlich wohl schon hundertmal gehalten hat; das macht das, was er sagt, weiß Gott nicht falsch, aber man hat es eben schon hundertmal gehört und gelesen. Ebenso wie die Ausführungen von Christopher Allen und Damir Skenderovic zum gefürchteten Schlagwort Islamophobie, das als solches nicht weiter hinterfragt wird. Statt dessen verfahren beide Autoren weitgehend selbstreferentiell, d.h. unter Berufung auf Literatur von Kollegen, die ebenfalls gegen die behauptete Islamophobie zu Felde ziehen, ohne jedoch originäre Belege in nennenswertem Maße beizubringen. Allen, der es zwischendurch schafft, die Anschläge von New York, Madrid und London "medial aufgebauschte Ereignisse" zu nennen (72), kommt schließlich zu dem etwas merkwürdigen Schluss, man sei zwar hinsichtlich der Islamophobie noch weithin ahnungslos und unwissend, müsse sich aber, um voranzukommen, kritisch mit ihr auseinandersetzen, sich ihr umfassend zuwenden und sie als eine deutliche Realität anerkennen (77). Eine Art credo quia absurdum also.
Vier Beiträge (Sahlfeld, Marko, Pahud de Mortanges und Winzeler) widmen sich konkreten Rechtsfragen, bei denen muslimische Glaubens- und Rechtsauffassungen mit der europäischen Lebenswirklichkeit in Konflikt geraten, insbesondere auf den Gebieten Schulrecht, Kopftuch, Bestattungsrecht und Schächten. Jeder der vier Aufsätze ist für sich genommen durchaus erhellend, aber auch hier wäre ein bißchen mehr Koordination angebracht gewesen, um unnötige Wiederholungen zu vermeiden. So wird der Fall jener Schweizer Grundschullehrerin, die erfolglos gegen das Kopftuchverbot klagte, von allen vier Autoren abgehandelt (238ff., 252ff., 276ff. und 283f.), das erfolgreiche Bemühen jenes muslimischen Vaters, seine Tochter aus religiösen Gründen vom Schwimmunterricht der zweiten Grundschulklasse abzumelden, von deren dreien (236ff., 274ff., 287ff.). Während die vier Juristen bzw. Rechtshistoriker weitgehend auf der deskriptiven Ebene verharren, widmet sich Sami A. Aldeeb Abu-Sahlieh in seinem streitbaren Beitrag der Frage nach der Haltung des Islams zu den Menschenrechten im allgemeinen und klopft Koran, Hadith und einschlägige Stellungnahmen moderner arabischer Autoren auf die bekannten sensiblen Punkte hin ab: Religionsfreiheit, Gleichheit zwischen Mann und Frau sowie zwischen Muslimen und Nichtmuslimen, Strafrecht und Sklaverei. Das ist im Ergebnis reichlich ernüchternd, selbst wenn man der Kritik des Autors nicht in allen Einzelheiten folgen mag. Insbesondere hätte man sich gewünscht, dass er mehr europäische muslimische Autoren zitiert hätte und der Frage nachgegangen wäre, ob und inwieweit diese sich von ihren klassischen Vorgängern, aber auch ihren Zeitgenossen in der islamischen Welt unterscheiden.
Zwei Aufsätze haben die Soziologie des europäischen Islams zum Gegenstand: Gilles Kepel beschreibt die Entwicklung "zwischen Integration und Kommunitarismus" der letzten 35 Jahre, seit dem Oktoberkrieg 1973 und dem darauffolgenden Ölschock mit großer Geste (und leider etlichen Kalauern, die man ihm nicht gestrichen hat), aber scharfsichtiger Beobachtungsgabe. Bassam Tibi schließlich muss wohl als tragischer Fall bezeichnet werden. Von den 49 Fußnoten seines Aufsatzes über "Europa und seine islamischen Enklaven" handeln 38 von Tibi und seinen Entdeckungen. Und was hat der Mann nicht alles entdeckt: die Leitkultur, den Euro-Islam, die Einsicht, dass Islamismus Totalitarismus ist, die Islamologie (die ganz besonders, schließlich ist die Islamwissenschaft ja nur eine philologische Hilfswissenschaft). Weder lässt er den Leser im unklaren darüber, dass er in Harvard, Cornell, Singapur, Stockholm und Paris bahnbrechendes geleistet hat, noch vergisst er, auf "meine Lebensgeschichte der Diskriminierung an der deutschen Universität" (43) hinzuweisen. Dabei ist ja nicht alles verkehrt, was er sagt, vieles davon wäre im Prinzip sogar sehr bedenkenswert, etwa sein streitbares Eintreten für Pluralismus, Säkularismus und Menschenrechte und gegen Kulturrelativismus (51f.), seine Anmerkungen zur Einwanderung (56ff.) oder seine Erkenntnis: "Der Islam ist das, was man daraus macht" (62). Aber eigentlich mag man sich ein solches Maß an Eitelkeit, das zwischen Aggressivität und Selbstmitleid oszilliert, nicht antun.
Tibis Artikel ist nicht das einzige Ärgernis. Der intellektuelle Nullpunkt des Buches wird von Hamid Kasiri erreicht, der seine Ausführungen über "Historisch-kritische Koranhermeneutik aus der Sicht der Schiatheologie" mit den Worten eröffnet: "Wir können sogar zu unserer Freude hinzufügen, dass auch im Westen viele Gläubige deutlicher als je zuvor das Bekenntnis zum Hl. Koran als einzigartige Glaubensquelle und Richtlinie für den Glauben wieder entdeckt und gleichsam reaktiviert haben" (161) und 13 qualvolle Seiten später zum Schluss kommt: "Das Interessante beim Hl. Koran ist das, dass er selber historisch-kritische Stellung zu den früheren Offenbarungsbüchern nimmt und versucht, dadurch die Mythen und Ungenauigkeiten, die in denen existierten, zu korrigieren und zu einer vernünftigen und logischen Vorstellung von Gott und anderer theologischen Lehren zu führen" (174). Dem ist nichts hinzuzufügen.
Auch bei Patrice Meyer-Bischs Aufsatz über den "Beitrag der Buchreligionen zum Verständnis der kulturellen Rechte" weiß man nicht so recht, was er in einer ernsthaften Publikation verloren hat. Der Autor raunt von der "Wiederherstellung der Authentizität im Inneren" der Religionen, die "oft krank oder verknöchert waren und zu Diskriminierung und Krieg aufgerufen haben und immer noch aufrufen" (181) und kommt zu dem bemerkenswerten Schluss: "Die religiösen Überlieferungen erscheinen als Glaubenserfahrungen, ebenso gilt das für die Tradition der Menschenrechte. Diese Glaubensformen sind in dem Maße nicht selbstgefällig, in dem sie nicht beanspruchen können, das Unsagbare zu sagen, weil sie sich sonst in Widersprüche verwickeln." (182) Wer sich von diesem Relativismus reinsten Wassers immer noch nicht abschrecken lässt, wird viele unverständliche Sätze später mit dem Bonmot belohnt: "Diese verbotene Richtung ist das grundlegende 'Inter-diktum', ein 'inter'-subjektives 'Diktum', das die Gesellschaft durchdringt, eine Grundlage, von der ausgehend sich Rechte, Freiheiten und Verantwortlichkeiten auf vielfältigen Stufen, aber auch Wegen (Leitern, Kulturen), die tausendundeine Kultur eröffnen" (190). So etwas möchte man sich einrahmen. Meyer-Bisch ist übrigens Koordinator des interdisziplinären Instituts für Ethik und Menschenrechte und des UNESCO-Lehrstuhls für Menschenrechte und Demokratie an der Universität Freiburg i. Ue.
Der eigentliche Skandal des Buches ist allerdings Elsayed Elshaheds atemberaubende Apologie der islamischen Religions- und Meinungsfreiheit. Nicht nur, dass er die Gewalttaten im Gefolge der Veröffentlichung der dänischen Muhammad-Karikaturen als "eine bedauerliche aber dennoch logische Folgeerscheinung eines kollektiven und individuellen Fehlverhaltens der verantwortlichen Politiker in Dänemark" (309) darstellt, nachdem die Klage der Muslime in Dänemark "einfach abgewiesen", wurde und "alle legalen Protestmöglichkeiten ergebnislos ausgeschöpft waren". Der Islamistenslogan "der Islam ist die Lösung" ist für ihn eine " [...]im Prinzip gut gemeinte und wegweisende Antwort [...]. Denn der Islam ist, meiner Meinung nach, wie eine große Apotheke, in der es für fast alle Krankheiten das richtige Medikament gibt." Man brauche nur einen Arzt, der die richtige Diagnose stelle und "Menge und Häufigkeit des jeweiligen passenden Medikaments bestimmt" (310f.). Da wundert es nicht mehr, dass im folgenden Muhammads Verfassung von Medina als "erste Konzeption für eine multiethnische und multikulturelle Gesellschaft, in der die kollektive sowie die individuelle Religionsfreiheit und Gleichberechtigung durch die Staatsbürgerschaft garantiert" wurde (311f.), bezeichnet wird und dass der Ijtihad zum gesunden Menschenverstand und zur neben Koran und Sunna dritten Hauptquelle der islamischen Rechtsfindung mutiert (313). Muhkam- und mutashabih-Verse werden umgedeutet (312) als die, die für alle Zeit verbindlich gelten (muhkam, nur 5%), bzw. die, die unverbindlich und veränderbar sind (mutashabih, 95%), und die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: "Die Primärquellen der Schari'a sowie die moderne Rechtsliteratur garantieren die freie Meinungsäußerung und sowohl die kollektive als auch die individuelle Religionsfreiheit und lehnen jeglichen Zwang besonders im Bereich des eigenen Glaubens ab. Alte oder moderne Rechtsliteratur oder Praxis, die die freie Meinungsäußerung einschränken wollen, haben eine unverbindliche Natur und widersprechen nicht nur dem Geist und dem Wortlaut der offenbarten Primärquellen, sondern auch der Praxis des Propheten Muhammad" (314). Das ganze mündet schließlich in die Forderung: "Das Rechtsverständnis in der Aufnahmegesellschaft sollte interkulturell soweit erweitert werden, dass genügend Freiraum für andere kulturell bedingte Verhaltensweisen und Erscheinungsformen gewährleistet wird." (321) Kein Wort von der gezielten Aufwiegelung des Volkszorns beim Karikaturenstreit oder von diskriminierenden Vorschriften im klassischen islamischen Recht und in der real existierenden Geschichte - das Wort "jihad" kommt noch nicht einmal zum Zwecke apologetischer Reinwaschung vor, es fällt schlichtweg unter den Tisch. Das alles ist einigermaßen abenteuerlich; dass so ein Beitrag unkommentiert und unwidersprochen in diesem Sammelband erscheint, ist ein völliges Unding.
Bleiben leider nur zwei Artikel, die die Lektüre wirklich lohnen. Zum einen Felix Körners brillanter Beitrag über historisch-kritische Koranexegese (für die er erst einmal neun Kriterien aufstellt) und deren neuerdings kritische Hinterfragung innerhalb der Ankaraner Theologenschule. Mehmet Paçacıs Kritik am modernistischen Paradigma und seinem Plädoyer für eine verstärkte Heranziehung des Hadith tritt Körner kritisch und auf hohem theologischen Niveau entgegen, ohne jedoch einer Haltung auf den Leim zu gehen, die den Muslimen sagt, wie der Islam richtigerweise auszusehen habe. Der zweite herausragende Beitrag ist Mariano Delgados Überblick über die Herausbildung des westlichen Begriffs von Toleranz und Religionsfreiheit, der die weniger positiven Seiten der Geschichte - die Erhebung des Christentums zur Staatsreligion, Vertreibungen und Zwangsbekehrungen, v.a. gegen Juden - keineswegs außer Acht lässt. Der Bogen spannt sich von der Aufklärung und der Französischen Revolution bis hin zur Erklärung Dignitatis humanae des Zweiten Vatikanischen Konzils, in der sich auch die (katholische) Kirche zur umfassenden Anerkennung selbst der negativen Religionsfreiheit durchringen konnte. Es bleibt in Anlehnung an den Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde die Erkenntnis, "dass die Religionsfreiheit in ihrer Entstehung nicht den Kirchen, nicht den Theologen und auch nicht dem christlichen Naturrecht verdankt wird, 'sondern dem modernen Staat, den Juristen und dem weltlichen rationalen Recht'. (...) Das (sic!) ein solches Bekenntnis zur Religionsfreiheit und so auch zu den Bedingungen der Moderne für Religion und Öffentlichkeit in den meisten Ländern der islamischen Welt bisher nicht möglich war, ist der Hauptgrund für die heutige Divergenz mit Europa" (339).
Dafür muss man sich das Buch nicht notwendigerweise anschaffen, denn just diese beiden Aufsätze sind ohne allzu großen Rechercheaufwand als pdf-Dateien im Internet zu finden.
Rainer Brunner