James H. Meyer: Turks Across Empires. Marketing Muslim Identity in the Russian-Ottoman Borderlands, 1856-1914 (= Oxford Studies in Modern European History), Oxford: Oxford University Press 2014, XII + 211 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-872514-5, GBP 60,00
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In dem Buch des an der Montana State University in Bozeman lehrenden Historikers und Nahostwissenschaftlers James H. Meyer geht es in erster Linie um die Analyse der Rolle von russischen Muslimen bei der Herausbildung des Panturkismus' zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Als Mittelpunkt dient ihm die Zeit von der Jungtürkischen Revolution 1908 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Letzten Endes geht es um die Kontextualisierung der Aktivitäten von drei Schlüsselfiguren: Ismail Gasprinski (1851-1914), Ahmet Ağaoğlu (1869-1939) und Yusuf Akçura (1876-1935).
Ismail Gasprinski war ein Krimtatare, der während des Krimkrieges (1853-56) aus seiner Heimat vertrieben wurde. Nach einer Ausbildung in der Militärakademie in Woronesch lebte er längere Zeit in Moskau. Da 1867 ein Versuch, über Odessa aus Russland herauszukommen, scheiterte, begab er sich nach Bahçesaray. Schließlich nahm er in Jalta einen Posten als Lehrer an. 1872 gelang es ihm, nach Paris zu reisen, von wo aus er zwei Jahre später nach Istanbul reiste. Weil dort jedoch seine Bewerbung um einen Platz auf der Militärakademie (Harbiye Mektebi) abgelehnt wurde, beschloss er, auf die Krim zurückzukehren. Hier etablierte er 1883 das Journal Tercüman/Perevodčik, das bis 1918 die einzige unabhängige türkischsprachige Zeitschrift in Russland bleiben sollte. Gasprinski setzte sich für eine Verbesserung der Situation der Frauen und für eine umfassende Bildungsreform ein, um das seiner Meinung nach veraltete und überholte Erziehungswesen und Gesellschaftssystem in den muslimisch-russischen Provinzen zu modernisieren. In diesem Rahmen entwickelte er auch eine panturkische Sprache, die versuchte, ohne arabische und persische Worte auszukommen. Er war darüber hinaus einer der Gründer der Ittifak-i Muslimin ("Muslimische Union"), einer liberaldemokratischen Partei in Russland, die im Zuge des Zweiten Allrussisch-Muslimischen Kongress in St. Petersburg im Januar 1906 entstand. Im Laufe der Zeit wurde Gasprinski auch noch einer der wichtigsten Intellektuellen des sogenannten Jadidismus', also der überregionalen modernistischen Reformbewegung der russischen Muslime am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Yusuf Akçura wurde im russischen Ulyanovsk in eine kasantatarische Familie hineingeboren. Er lebte dort, bis seine Mutter in das Osmanische Reich emigrierte, als er sieben Jahre alt war. Nachdem er in Istanbul eine gute Ausbildung genossen hatte, wurde er dort 1895 an der Militärakademie angenommen. Der Weg führte ihn dann weiter in das Trainingsprogramm des Generalstabes (Erkan-i Harbiye). Allerdings machte man ihm nach einiger Zeit der Prozess wegen seiner vermeintlichen Angehörigkeit zu einer aufrührerischen Bewegung. Man schickte ihn ins Exil in das libysche Fezzan. Vor dort floh er 1899 nach Paris, wo er die nächsten Jahre verbrachte und in Kontakt mit türkischen Nationalisten kam. 1903 kehrte er nach Kasan zurück und begann, publizistisch aktiv zu werden. 1904 veröffentlichte er in einer ägyptischen Zeitschrift sein Werk Üç Tarz-ι Siyaset ("Drei Wege der Politik"). Seine hier ausformulierten Ideen wurden nach der Jungtürkischen Revolution zu einem panturkischen Manifesto. In Kasan gab Akçura die Zeitschrift Kazan Muhbiri ("Kasaner Korrespondent", 1905-1911) heraus und wurde in das zum ersten Mal in Russland einberufene Parlament (Duma) gewählt. Er fungierte als Führer der Nationalbewegung der Kasantataren und war ebenfalls einer der Gründer der Ittifak-i Muslimin. Nach der Wiederherstellung der Autokratie in Russland 1907 emigrierte Akçura nach Istanbul. Dort gab er ab 1911 die Zeitschrift Türk Yurdu ("Heimat der Türken") heraus, die sich schnell zu dem wichtigsten Organ des Panturkismus' entwickelte. Zusammen mit anderen russischen Muslimen rief er 1912 die Organisation Türk Ocağι ("Türkischer Herd") ins Leben, die sich für die Reformierung der türkischen Sprache und die Erweckung des Gemeinschaftsgeistes unter den Turkvölkern einsetzte.
Ahmet Ağaoğlu entstammte einer schiitischen Familie, die in der Stadt Shusha im Südkaukasus wohnte. Nach einem Abschluss an der Universität von St. Petersburg begab er sich 1888 nach Paris. Sechs Jahre später erfolgte die Rückkehr in die Heimat. In Baku hielt er sich mit Fremdsprachenunterricht über Wasser und begann gleichzeitig zu schreiben. In seinen Arbeiten setzte auch er sich für eine Reform des Bildungs- und Erziehungssystems und für die Verbesserung der Lage der Frauen ein. Ağaoğlu wurde für die Duma zu einem der muslimischen Repräsentanten von Transkaukasien gewählt. Nach 1907 sah er sich polizeilichen Verfolgungen ausgesetzt und floh Ende 1908 nach Istanbul. Zusammen mit anderen Emigranten aus dem Russischen Reich wurde er eine Schlüsselfigur in der panturkischen Bewegung, die sich um Akçuras Journal Türk Yurdu gruppierte. Man wählte ihn zudem zum Präsidenten der Türk Ocağι.
Man sieht, warum sich der Verfasser für diese drei Persönlichkeiten entschieden hat: es gibt eine Reihe von direkten Kontaktpunkten. Räumlich gesehen handelt es sich um das muslimische Russland, Paris und Istanbul. Als gemeinsame Plattformen können wir die Muslimische Union und die Türk Ocağι erkennen, und als Medium diente ihnen vor allem die Zeitschrift Türk Yurdu. Inhaltlich verband sie natürlich die Vorstellung eines politischen, reformorientierten und transnationalen Panturkismus'. Die von diesen drei Männern entfalteten Aktivitäten bekamen vor allem im Zuge der Jungtürkischen Revolution eine nicht unerhebliche Dynamik. Plötzlich war für einige Jahre das Tor für diese Form der Agitation offen, bevor es sich spätestens mit der Gründung der Sowjetunion und der Türkischen Republik für immer schloss.
Was ist nun das Neue an der Studie? Immerhin liegen für alle drei Personen umfangreiche Monographien vor. [1] Ich denke, der Mehrwert besteht zum einen in der gelungenen Darstellung der Verbindungen der drei muslimisch-russischen Intellektuellen. Zum anderen zeigt uns Meyer sehr gut, dass sich der Panturkismus nur in einer ganz bestimmten Epoche entwickeln konnte, nämlich in einer Zeit, in der es in Russland und im Osmanischen Reich neben den nationalistischen Diskursen noch einen Spielraum für alternative Strömungen gegeben hat. 1905 und 1908 wirkten wie Ventile für den angestauten Reformidealismus. Allerdings war es damit 1907 bzw. 1912, spätestens 1914 auch weitgehend wieder vorbei.
Meyer beginnt mit einer informativen Skizze der Mobilitätsdynamiken im Russischen Reich nach dem Krimkrieg. Trotz der Gegenmaßnahmen der russischen Behörden gelang es Millionen von Menschen in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, auf dem Gebiet der Hohen Pforte ein neues Leben zu beginnen. Die russische Zentralmacht versuchte gleichzeitig, die muslimische Bevölkerung über "Geistliche Versammlungen" in Orenburg, auf der Krim und im Kaukasus unter Kontrolle zu bringen. Dies gelang zwar weitgehend, doch war an vielen Orten weiterhin der Ruf nach grundlegenden administrativen und das Erziehungswesen betreffenden Reformen zu hören, zumal sich eine Tendenz der Russifizierung und Assimilation von Nicht-Russen immer stärker bemerkbar machte. Der Verfasser zeigt sehr schön, in welchem Umfang und mit welchen Medien Yusuf Akçura, Ahmet Ağaoğlu und Ismail Gasprinski bereits in dieser Zeit, aber dann insbesondere nach 1905 als Aktivisten tätig waren. Dabei griffen sie in erster Linie Themen wie Steuern, Verwaltung, Ausbildung und Frauenrechte auf, für die sich große Teile der muslimisch-russischen Einwohner interessierten. Die drei waren nicht allein, sondern setzten sich zusammen mit vielen anderen - wie etwa Ahmet Hüseyinov (1837-1906), Mahmut Hüseyinov (1839-1910) und Fatih Kerimi (1870-1937) - für eine Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen ein. Interessanterweise gab es immer enge Kontakte zu den Russlandmuslimen im Osmanischen Reich. Auch dort existierte innerhalb eines autokratischen Systems eine Atmosphäre des Umbruchs, in der Debatten über die richtigen Maßnahmen, einen Wandel herbeizuführen, geführt wurden. Wie Meyer zeigt, bildeten muslimische Aktivisten, Intellektuelle, Lehrer und Studenten die Speerspitze, wenn es um die Forderung und den Kampf um kulturelle Reformen ging. Häufig genug gehörten sie den zahlreichen - wie Meyer es nennt - transimperialen Muslimen an, die sich ziemlich frei zwischen den beiden Reichen hin und her bewegten. Für Akçura und Ağaoğlu bedeutete die Übersiedlung nach Istanbul im Grund keinen wirklichen Neuanfang, denn sie konnten sich dort gleich mit den vielen gleichgesinnten Russlandmuslimen zusammenschließen. Diese scharten sich, wie wir oben sahen, nach 1911 um die Zeitschrift Türk Yurdu und die Organisation Türk Ocağι und verbreitete von dort aus ihre panturkistischen Vorstellungen und Ideen.
Meyer hat ein ausgezeichnet zu lesendes Buch mit einer überzeugenden Struktur und einer klaren Argumentation geschrieben. Er erzählt die Geschichte des Panturkismus als Verflechtungsgeschichte. Sinnvollerweise endet seine Darstellung mit der russischen Kriegserklärung an das Osmanischen Reich am 2. November 1914 bzw. der Kriegserklärung des Osmanischen Reiches an die Triple Entente (Großbritannien, Frankreich und das Russische Reich) am 12. November 1914. Auch wenn er heute mancherorts wieder etwas auflebt, blieb der Panturkismus doch eine - durchaus wichtige und sehr spannende - Episode.
Anmerkung:
[1] Zu Yusuf Akçura siehe Francois Georgeon: Aux origines du nationalisme turc: Yusuf Akçura (1876-1935) (Paris 1980); zu Ahmet Ağaoğlu siehe A. Holly Shissler: Between Two Empires: Ahmet Ağaoğlu and the New Turkey (London 2003) und zu Ismail Gasprinski siehe Edward J. Lazzerini: Ismail Bey Gaspirali and MuslimModernism in Russia, 1878-1914. PhD thesis, Seattle, WA1973. Leider hat Volker Adams "Russlandmuslime in Istanbul am Vorabend des Ersten Weltkrieges" (Frankfurt am Main 2002) keine Berücksichtigung gefunden.
Stephan Conermann