Katalin Polgar: Das Oberappellationsgericht der vier freien Städte Deutschlands (1820-1879) und seine Richterpersönlichkeiten (= Rechtshistorische Reihe; Bd. 330), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2006, 348 S., ISBN 978-3-631-55602-3, EUR 56,50
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Im Jahre 1880 stellte Bernhard Windscheid, damals einer der bedeutendsten deutschen Juristen, fest, in der Mitte des 19. Jahrhunderts habe es in Deutschland nur zwei höchste Ehren für das Streben hervorragender wissenschaftlicher Juristen gegeben, nämlich Nachfolger Savignys auf dem Berliner Lehrstuhl oder Präsident des Oberappellationsgerichts der vier Freien Städte Deutschlands zu sein. Tatsächlich folgte nach dem Tod des hoch angesehenen langjährigen ersten Präsidenten Georg Arnold Heise mit Carl Georg von Wächter einer der ausgezeichnetesten Juristen seiner Zeit auf den Präsidentenstuhl des Gerichts. Windscheid zögerte nicht, das Gericht als den "wohl ersten deutschen Gerichtshof" zu bezeichnen und sein nicht minder berühmter Kollege Rudolf Jhering nannte ihn den "gelehrten Gerichtshof Deutschlands". Weiter führte Jhering aus: "Die deutsche Wissenschaft hat die Probe, zu der sie hier in Verbindung mit der Praxis berufen ward, mit Ruhm bestanden; die Lübecker Urteile gehörten zu denjenigen, denen der Praktiker wie der Theoretiker in gleicher Weise Anerkennung zollte, es fanden sich darunter wahre Meisterstücke, gleichmäßig nach Form und Inhalt, Leistungen die auf wenigen Seiten ganze dickleibige juristische Monographien aufwogen." Schließlich urteilte Friedrich Carl von Savigny, der Gerichtshof sei "ein Muster der Rechtspflege." (17)
In den wenigen Jahrzehnten seines Bestehens hatte sich das Oberappellationsgericht der vier Freien Städte Deutschlands (Hamburg, Lübeck, Bremen und Frankfurt am Main) unter den gemeinschaftlichen Oberappellationsgerichten der kleineren Territorien des Deutschen Bundes ein überragendes Ansehen erworben. Die Spruchsammlungen des Gerichts dienten wiederholt als Basis angesehener Lehrbücher. "Das Gericht nahm mit seiner Rechtsprechung erheblichen Einfluss auf die Vorbereitungen für ein gemeinsames Handelsgesetzbuch für den Deutschen Bund und war auf diesem Wege durchaus rechtsbildend." (76)
Es ist somit für die deutsche Rechtsgeschichte im 19. Jahrhundert von allgemeinem Interesse. Seine umfassende Untersuchung war trotz älterer Vorarbeiten aus dem 19. und 20. Jahrhundert bislang ein Desiderat. Diese Lücke wurde nun mit der rechtswissenschaftlichen Kieler Dissertation von Katalin Polgar geschlossen. Sie entstand unter der Betreuung von Jörn Eckert (†) und Rudolf Meyer-Pritzl.
Katalin Polgar behandelt das Oberappellationsgericht der vier Freien Städte Deutschlands von seiner Gründungsphase ab 1806 bis zu seiner Auflösung im Jahre 1879. Ausgangspunkt der Darstellung sind die ersten Verhandlungen nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, die 14 Jahre später mit der Gründung des Oberappellationsgerichts endeten. Es folgt die Vorstellung der Gerichtsverfassung und ihrer Änderungen, des Personalbestandes sowie der Auswahlkriterien für die Mitglieder und Angehörigen. Dargestellt wird sodann das Handeln der vier Senate, wobei ein Schwerpunkt auf dem jeweiligen Direktorialsenat und den Visitationskommissionen liegt. Die anschließenden Ausführungen thematisieren das Einwirken des Gerichts und seine voneinander abweichenden Zuständigkeiten in den vier Städten mit ihren unterschiedlichen Verfassungen. Ebenfalls behandelt wird die Funktion des Gerichts als Austrägal- und Kompromissinstanz.
Die Arbeit stellt mithin das Gericht selbst und seine Erfolgsgeschichte dar und untersucht, inwiefern die Präsidenten Georg Arnold Heise, Carl Georg von Wächter und Johann Friedrich Kierulff ihren Beitrag dazu leisten konnten. Eine entscheidende Rolle für die Weiterentwicklung des Gerichts spielten dabei die einzelnen am Oberappellationsgericht tätig gewesenen Richter, deren Biografien zum Schluss vorgestellt werden.
Die Einleitung beginnt mit einem 'freudschen Verschreiber': Das Gericht war das letzte der "aufgrund des Artikel 12 der Deutschen Bundesakte [von 1815] errichteten obersten Gerichtshöfe im Reich." Es befand sich natürlich nicht im untergegangenen Reich, auch wenn manche Juristen 1806 und später argumentierten, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation würde in den Grenzen vom 1. August 1806 fortbestehen, weil seine Auflösung rechtswidrig gewesen sei. Das Gericht befand sich, abgesehen von den letzen acht Jahren seiner Existenz, auch nicht im Deutschen Reich, sondern im Deutschen Bund. Aber Polgars Formulierung entspricht dem zeitgenössischen Sprachgebrauch: Viele Zeitgenossen redeten in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, ungeachtet der staatsrechtlichen Verhältnisse, weiter vom Reich, wenn sie Deutschland als Ganzes meinten.
Auch seine Existenz verdankte das Gericht dem Reich bzw. dessen Untergang. Denn mit ihm stellten auch die beiden obersten Reichsgerichte, der Reichshofrat in Wien und das Reichskammergericht in Wetzlar, ihre Tätigkeit ein. Die den Umbruch überlebenden kleineren Territorien Deutschlands, die selbst kein dreizügiges Gerichtswesen unterhalten konnten, verloren damit ihre traditionelle Oberappellationsinstanz. Die Deutsche Bundesakte verfügte daher, dass sich Mitglieder des Bundes mit weniger als 300.000 Einwohnern zu einer gemeinsamen dritten Instanz zusammenschließen sollten, es sei denn, sie hätten mehr als 150.000 Einwohner und verfügten bereits über eine dritte Instanz. Für die Hansestädte und Frankfurt am Main, die zusammen nur über 210.000 Seelen verfügten, wurde jedoch wegen ihrer handelspolitischen und wirtschaftlichen Bedeutung eine Sonderregelung getroffen. Auf diese Weise entstand das Oberappellationsgericht der vier Freien Städte. Im Gegensatz zu Lübeck sträubten sich Bremen und Hamburg jedoch lange Zeit gegen die Begründung des Gerichts, während sich Frankfurt desinteressiert zeigte. Im Hintergrund stand die Furcht der Städte vor Eingriffen in ihre inneren Angelegenheiten. In der Tat konnten sie sich solcher Eingriffe langfristig nicht erwehren, doch wirkten sich diese durchaus zum Wohl der Städte aus. Das Gericht bewirkte eine Modernisierung bzw. die Trennung von Verwaltung und Gerichtswesen.
Der Schwerpunkt der Spruchtätigkeit des Gerichts lag neben dem Zivil- und Strafrecht auf dem Gebiet des Handels- und Wirtschaftsrechts. Darüber hätte man gern mehr erfahren und an dieser Stelle vielleicht auch die eine oder andere Fallstudie erwartet. Des Weiteren war in Artikel 12 der Deutschen Bundesakte niedergelegt, dass die Gerichte dritter Instanz, auch die gemeinschaftlichen, als Austrägalinstanz nach Artikel 11 für Streitigkeiten zwischen Bundesmitgliedern dienen sollten, da ein gemeinsames Bundesgericht 1815 am Widerstand der ehemaligen Verbündeten Napoleons gescheitert war.
Auch als Austrägalinstanz für die Bundesmitglieder erwarb sich das in Lübeck angesiedelte Oberappellationsgericht der vier Freien Städte Deutschlands vor den anderen Oberappellationsgerichten einen hervorragenden Ruf. Bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts betrafen sämtliche Fälle, die der Lübecker Gerichtshof als Austrägalinstanz entschied, die rechtliche und finanzielle Abwicklung des Alten Reiches und seiner Glieder. Es ging dabei um die Witwenpension der Fürstin Berkeley, der Witwe des letzten Markgrafen von Bayreuth und Ansbach, um Konflikte zwischen Bayern und Baden über Schulden Mediatisierter sowie kurpfälzischer Schulden, um einen Vermögensstreit zwischen einer Familienstiftung und der vormaligen Deutschordensballei Sachsen, eine Auseinandersetzung zwischen Kurhessen und Waldeck um die Pension eines ehemaligen Reichspostmeisters, um einen Rechtsstreit zwischen dem Königreich Hannover und dem Fürstentum Lippe wegen eines zwischen dem Grafen von Lippe und dem ehemaligen Kreuzstift zu Hildesheim 1613 geschlossenen Rentenkaufs usw. Immer wieder ging es auch um die Territorialzugehörigkeit einzelner Grundstücke. Erst 1877, sechs Jahre nach der Gründung des neuen Deutschen Reiches kam mit einem Eisenbahnstreit zwischen Preußen und Sachsen ein zeitgenössisches Thema vor die Lübecker Austrägalinstanz.
Mit dem Deutschen Bruderkrieg 1866 beginnt der Weg, der zur Auflösung des Oberappellationsgerichts der Freien Städte führte, ohne dass man jedoch von einem Niedergang sprechen dürfte. Frankfurt schied nach dem Verlust der Eigenstaatlichkeit durch die preußische Annexion zum 1. Januar 1867 aus dem Gerichtsverbund aus. Der Name des Gerichts lautete nun Oberappellationsgericht der Freien Hansestädte oder kurz Hanseatisches Oberappellationsgericht. Dann folgte drei Jahre nach der Gründung des Norddeutschen Bundes die Abgabe der Zuständigkeit für das Handelsrecht an das Bundesoberhandelsgericht in Leipzig, das spätere Reichsoberhandelsgericht und schließlich wurde mit der Neuorganisation der Gerichtsverfassung durch die Reichsjustizgesetze zum 1. Oktober 1879 das Gericht aufgelöst. Die Prozesse wurden nach sachlicher Zuständigkeit vom Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg oder vom Reichsgericht in Leipzig übernommen.
All dies kann man aus der nützlichen Darstellung von Katalin Polgar lernen. Gerne hätte man zudem noch erfahren, welche Bedeutung die 1811 in Hamburg errichtete napoleonische Cour Impériale als Zwischenglied zwischen den alten Reichsgerichten und dem gemeinsamen Oberappellationsgericht hatte.
Kleinere Fehler fallen nicht ins Gewicht. So ereilte "das Schicksal der Mediatisierten" Augsburg und Nürnberg nicht erst 1815, sondern bereits 1805 und 1806. Auch genossen die reichsunmittelbaren Städte des Alten Reiches keine "volle Souveränität" (19), vielmehr standen sie unter der Souveränität von Kaiser und Reich, das sie selbst mitkonstituierten. Der Kaiser fungierte als ihr Stadtherr. Anzumerken ist auch, dass die Gliederung mittels römischer und arabischer Zahlen sowie lateinischer Buchstaben der Orientierung im Text nicht förderlich ist.
Insgesamt handelt es sich um eine verdienstvolle und interessante Arbeit. Insbesondere das Kapitel über die Austrägal- und Kompromissinstanz demonstriert eindrucksvoll das lange prozessuale Nachleben des 1806 untergegangenen Reichs. Hier zeigt sich auch eine bemerkenswerte Interdependenz von Peripherie und Ganzem im Deutschen Bund, fochten vor dem Lübecker Gerichtshof doch auch süd- und ostdeutsche Personen und Staaten gegeneinander. Was wir jetzt brauchen ist eine komparatistische Studie, welche die Tätigkeit des Gerichts an der Trave mit jener der gemeinschaftlichen Oberappellationsgerichte in Celle und Jena vergleicht.
Wolfgang Burgdorf