Stefanie Agerer: Das Recht des Koran. Islamisches Strafrecht in der Gegenwart, Saarbrücken: Verlag Dr. Müller e.K. 2006, 132 S., ISBN 978-3-86550-418-0, EUR 49,00
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In den Debatten um Islam und Islamisierung unserer Zeit spielt der arabische Begriff für das islamische Recht, die Šarī'a, eine wesentliche Rolle. Gerade mit der Šarī'a werden jene archaischen Gebräuche wie die einseitige Verstoßung der Frau durch den Mann oder die Strafe der Handamputation für Diebe assoziiert, die dem modernen westlichen Rechtsverständnis entgegenstehen und Befremden gegenüber dem Islam hervorrufen können. Anders als das Ehe- und Erbschaftsrecht haben islamische Rechtsnormen im Strafrecht dabei historisch gesehen gegenüber der herrscherlichen Rechtspraxis eine geringere Relevanz gehabt und im Zuge des Reformdenkens zwischen dem Ende des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts schien ihre Bedeutung ganz zu schwinden. Doch seit den 1970er Jahren gewinnen sie wieder größere Aktualität. In Saudi-Arabien und Pakistan sind die Vorschriften des islamischen Strafrechts schon länger Bestandteil des gültigen Rechts, ebenso in Iran und im Sudan. Dies impliziert die Existenz der ḥadd-Strafen, unter die auch die Steinigung von Ehebrechern oder Auspeitschungen fallen. Vertreter einer konsequenten Islamisierung in anderen islamischen Ländern geben sich zudem nicht damit zufrieden, dass die Šarī'a eher aus Respekt vor der Tradition als Hauptquelle der Gesetzgebung gilt.
Stefanie Agerer untersucht im vorliegenden Buch "Das Recht des Koran. Islamisches Strafrecht in der Gegenwart" nun die strafrechtliche Praxis in Pakistan und in Saudi-Arabien genauer. Dabei handelt es sich um die Verarbeitung einer politikwissenschaftlichen Diplomarbeit mit dem Titel "Theorie und Praxis des islamischen Strafrechts anhand der Beispiele Pakistan und Saudi-Arabien" aus dem Jahr 2004, was die Autorin in ihrer Einleitung nicht erwähnt, was aber aus dem Lebenslauf auf ihrer Internetseite deutlich wird. [http://www.stefanie-agerer.de/politik.htm ] Die Bearbeitung der Thematik ist ein Beitrag zu der erwähnten Šarī'a-Diskussion und verspricht eine Antwort auf die Frage, ob die Existenz von Šarī'a-Normen im positiven Recht auch den Vollzug der ḥadd-Strafen nach sich zieht:
"Im Zentrum der Betrachtung soll insbesondere die Beantwortung der Frage stehen, inwieweit heute eine Kluft zwischen Theorie und Praxis besteht, d.h. in welchem Maße der theoretischen Umsetzung der in der Šarī'a definierten Verbrechen und Strafen in beiden Ländern eine tatsächliche Anwendung dieser Einteilungen und Bestrafungen folgt." (7)
Agerer unterteilt ihr Buch in ein einführendes Kapitel zur (Re-)Islamisierung, einen Hauptteil mit dem Titel "Die Schari'a in Pakistan und Saudi-Arabien" und schließt mit Aussichten. Der Hauptteil beginnt mit einer Einführung zum islamischen Recht. Die Autorin klärt zunächst den arabischen Terminus ḥadd-Strafe, wobei es sich wörtlich übersetzt um Grenzstrafen handelt, die auf Delikte stehen, bei denen ein Mensch Rechtsansprüche Gottes verletzt hat und dafür zur Rechenschaft gezogen werden muss, ohne dass es einem Richter erlaubt wäre, eine andere Strafe auszusprechen oder Milde walten zu lassen. Dazu zählen in allen Rechtsschulen die Vergehen Diebstahl, Straßenraub, Unzucht, verleumderische Beschuldigung der Unzucht und Genuss berauschender Getränke.
Kapitel 2 des Hauptteils widmet sich der Strafrechtsentwicklung in Pakistan im Zuge der Islamisierung seit 1979. Im Rahmen der Enforcement of Hudud-Gesetze wurden für die genannten Vergehen die Strafen gemäß Šarī'a übernommen. Agerer geht die einzelnen Verordnungen nun nach Anwendung der Strafen durch. Demnach ist es bisher weder bei Diebstahl zur Amputation der rechten Hand gekommen noch zur Kreuzamputation von rechter Hand und linkem Fuß bei Raub. In vielen Fällen scheiterte eine Verurteilung zu einer ḥadd-Strafe an den mangelnden Zeugen. In diesen Fällen ist weiterhin der aus britischer Zeit stammende Pakistan Penal Code mit seinen Geld- und Gefängnisstrafen gültig. Während auch bei Unzucht wegen mangelnder Zeugen keine Steinigung registriert wurde, findet sich bei Verurteilungen wegen Unzucht, falscher Bezichtigung der Unzucht und Alkoholgenuss ein den ḥadd-Vorgaben ähnliches Strafmaß an Peitschenhieben. Agerer erwähnt hier am Rande, dass im Gegensatz zu einer sonst wörtlichen Anpassung an das klassische Recht die Halbwertigkeit von Frauen bei den Zeugenregelungen (vier Frauen, wo zwei Männer verlangt sind) nicht eingeführt wurde, Frauen vielmehr als Zeugen ausgeschlossen sind. Hier hätte man sich eine ausführlichere Besprechung gewünscht.
1997 folgte in Pakistan die Einführung des privaten Widervergeltungsrechts. Da Ärzte sich bislang weigern, bei privaten Widervergeltungen zugegen zu sein, was laut Gesetz vorgeschrieben wurde, fand noch keine solche Maßnahme statt, doch gab es 2001 einen Fall, bei dem drei Mörder nach Entschädigung der Familien der Opfer frei kamen. In einem abschließenden Abschnitt verweist die Autorin auf die islamistischen Tendenzen in der Nordwestprovinz und die "Jirgagerichte", die oft noch die vorislamischen Praktiken wie Ehrenmorde und die Übergabe von Verwandten als Ausgleich für Tötungsdelikte oder Vergewaltigungen absegnen. Agerer schlägt hier eine Brücke zum islamischen Fundamentalismus: "Wenngleich das Beschriebene eine Praxis aus vorislamischer Zeit und mit den religiösen Prinzipien des Islam nicht vereinbar ist, trägt insbesondere der fortschreitende Fundamentalismus zu ihrer Verbreitung bei." (53) Dieser Zusammenhang zwischen vorislamischen Praktiken und islamischem Fundamentalismus überzeugt aber kaum und hätte weiter ausgeführt werden müssen. Streng genommen fallen zudem Jirgagerichtsbarkeit und Ehrenmorde gar nicht unter "Das Recht des Korans". Problematisch ist daher auch, dass der einzige Anhang des Buches (121) dem Thema Ehrenmorde gewidmet ist.
Der nächste Teil widmet sich dem Recht im Königreich Saudi-Arabien. Hier galt kontinuierlich islamisches Recht ḥanbalitischer Schule, im Hiǧāz war es auch osmanisch ḥanafitisch geprägt. In einigen Gebieten wirkten zudem lokale Traditionen fort. 1932 rief Ibn Sa'ūd zur Rechtsvereinheitlichung auf und wies die Richter an, nur noch nach ḥanbalitischem Recht zu urteilen, was einer Quasikodifizierung gleichkam. Es ist nicht eindeutig zu bestimmen, welche Strafen in den letzten Jahren vollstreckt worden sind. Agerer stützt sich auf eine Erhebung, die für 1982/83 von zwei Amputationen bei 4900 Verfahren spricht und auf einen Bericht von Amnesty International, der auf fünf Amputationen im Jahr kommt. Für das Jahr 1999 sind zwei Kreuzamputationen bei Räubern belegt, 2000 gab es sieben derartige Bestrafungen. Die Steinigung bei Ehebruch ist nicht dokumentiert, dafür aber Enthauptungen. Es gibt keine Angaben zur Verleumdung wegen Unzucht. Die Strafe der Auspeitschungen für Weinkonsum wurde auf Drogen übertragen und auch Auspeitschungen von US-Bürgern wegen Weintrinkens sind belegt. Berufungsinstanzen, die in Pakistan einige ḥadd-Verurteilungen wieder aufgehoben haben, existieren nur bedingt und werden selten genutzt. Die Bestrafung mit Peitschenhieben geht oft über die koranischen Normen von 80 bis 100 Hieben hinaus und wird auch bei Glücksspiel und Vernachlässigung der Gebetszeiten angewendet, wofür es keine koranische Grundlage gibt. Auf dem Gebiet der privaten Rechtsansprüche des Menschen entscheiden die Gerichte über die Schuld, aber den Angehörigen bleibt es überlassen, zwischen Vergeltung, Kompensation oder Begnadigung zu entscheiden. Die private Zuständigkeit in diesen Fragen ist in Saudi-Arabien etabliert und keine Neuerung.
Unter dem Titel "Gemeinsamkeiten und Unterschiede" vergleicht Agerer nun beide Länder hinsichtlich geschichtlicher Entwicklung des islamischen Rechts, der theoretischen Verankerung des Strafrechts und seiner Anwendung. Ein wesentlicher historischer Unterschied ist dabei, dass Pakistan eine lange Geltung des britisch säkularen Rechts erlebt hat, während in Saudi Arabien nie ausländisches Recht galt. Hinzu kommt die Rolle der Gelehrten in der saudischen Rechtssprechung, während sich in Pakistan die Säkularität der Richter als Hindernis für die Vollstreckung von ḥadd-Strafen auswirkt. Es bleibt aber die Möglichkeit, dass ein kleiner gut bezeugter Diebstahl auch in Pakistan mit einer Amputation enden kann. Da jedoch auch das pakistanische Bildungswesen islamisiert wurde, verleiht Agerer ihrer Befürchtung Ausdruck, dass die bisherigen Bastionen gegen die Anwendung der ḥadd-Strafen fallen, wenn künftige Richter und Ärzte diese Strafformen akzeptieren. Agerer erachtet die pakistanische Entwicklung als offen und hält Veränderungen in Saudi Arabien für unwahrscheinlich, solange sich das Land als wahhabitischer Gottesstaat versteht.
Während die Literaturgrundlage für Pakistan als gut abgestützt gelten kann, gilt dies für Saudi-Arabien nicht im gleichen Maße. Obwohl die Autorin auch auf weitere Artikel verweist, hätten "Arab Law Quarterly" und das "Yearbook of Islamic and Middle Eastern Law" zumindest Erwähnung im Literaturteil finden können. Inhaltlich unterlaufen der Autorin in islamwissenschaftlicher Hinsicht kleinere Flüchtigkeiten wie auf Seite 70, wo sie Ibn Taymīya (gestorben 1328) zum Begründer der ḥanbalitischen Rechtschule macht, als welcher jedoch Aḥmad b. Ḥanbal (gestorben 855) angesehen wird. Zudem fällt die Verwendung des femininen Artikels bei fiqh auf: "Vogel streicht außerdem den erstaunlichen Umstand heraus, dass die Fiqh sich im Allgemeinen weigert, die Erlasse in den Scharia Gerichten umzusetzen." (75) Hier wird nicht klar, ob "die fiqh" die islamische Rechtswissenschaft meint oder wie sonst in solchen Zusammenhängen üblich auf die Personengruppe der fuqahā;' verweist.
Insgesamt bietet das Buch eine gute Ergänzung zur bloßen Feststellung, in einem Land gelte die Šarī'a, ohne dass nach den Anwendungsmodalitäten gefragt wird. Agerer zeigt auf, dass neben geschichtlichen Prägungen des Rechtssystems auch gesellschaftliche Gruppen eine wichtige Rolle spielen. Sicher sind im Einzelfall auch lokale Dynamiken zu berücksichtigen, doch versäumt es Agerer, ihre Einschätzung der Rolle der tribal geprägten pakistanischen Nordwestprovinz bei einer verstärkten Umsetzung der Šarī'a-Gesetze in einen Zusammenhang mit dem zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen Islamisierungstendenzen zu stellen. Ob sich die Veränderung der Ausbildung dahingehend auswirkt, dass die Hemmschwelle zur Anwendung der ḥadd-Strafen abnimmt, erscheint ebenfalls eher Vermutung zu sein. Die letzten Wahlen in Pakistan geben Hoffnung, dass sich die Verhältnisse in der Nordwestprovinz nicht auf das ganze Land übertragen lassen und viele Menschen allenfalls eine symbolische Geltung der Šarī'a-Vorschriften im Strafrecht wünschen, wofür sich in Saudi Arabien keine Anzeichen finden lassen.
Thomas Würtz