Willibald Steinmetz (Hg.): "Politik". Situationen eines Wortgebrauchs im Europa der Neuzeit, Frankfurt/M.: Campus 2007, 500 S., 9 Abb., ISBN 978-3-593-38446-7, EUR 49,90
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Aufgabe des zu besprechenden Sammelbandes ist eine Begriffsgeschichte des Begriffspaares "Politik" und "politisch" im Europa der Neuzeit, wobei vor allem deutsche und russische Beispiele, daneben aber auch fallweise französische und englische Entwicklungen nachgezeichnet werden. Er beginnt mit zwei methodischen Aufsätzen, in denen zunächst Wege einer historischen Semantik des Politischen vorgezeichnet und Überlegungen zum Verhältnis von Begriff und Bild angestellt werden. Es folgen vergleichende Darstellungen zur mitteleuropäischen Begriffsgeschichte von "Politik" und dem "Politiker" sowie chronologisch aufeinander aufbauende Darstellungen der Begriffsgeschichte von "Politik" und "politisch" in Russland. Den dritten Teil des Bandes füllen Einzelstudien zur Verwendung der untersuchten Begriffe in konkreteren historischen Zusammenhängen.
Damit reiht sich dieser Band in die anhaltende Diskussion über die Neuausrichtung der Politikgeschichte ein, die unter Stichworten wie "Kulturgeschichte des Politischen" oder "Neue Politikgeschichte" verhandelt wird.[1] In Anlehnung an das Konzept des Bielefelder SFB 584 "Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte" gehen die Autoren davon aus, dass sich die Bedeutungen von "Politik" und "politisch" im Zeitablauf wandeln, dass sie je nach Land, Sprache, Sprecher und Situation variieren und dass sich damit auch die Konturen und Merkmale des jeweils gedachten politischen Kommunikationsraums ändern. Diesen Veränderungen möchten sie begriffsgeschichtlich nachgehen, wobei einleitend schon zu Recht hervorgehoben wird, "dass der Gebrauch des Politikvokabulars zwar ein wichtiger, jedoch nicht der einzige Indikator und Faktor im Prozess der Herausbildung politischer Räume und Praktiken war und ist" (15).
Positiv hervorzuheben sind mehrere zu begrüßende Weiterentwicklungen: So werden der Mehrzahl der Beiträge nicht nur normative Quellen, etwa Lexika, und die geistesgeschichtliche Höhenkammliteratur zu Grunde gelegt, sondern auch ungedruckte Quellen, Massenpublizistik oder auch schöngeistige Literatur. Das Quellenspektrum für eine Begriffsgeschichte des Politischen wird somit ausgeweitet.[2] Gleichzeitig wird über den mitteleuropäischen Raum hinaus auch das russische Reich einbezogen, was europahistorisch dringend geboten scheint. Mit dem russischen Beispiel werden auch Fragen des Begriffstransfers, d.h. einer 'transnationalen' Begriffsgeschichte, sichtbar und thematisiert, die in den mitteleuropäisch ausgerichteten Beiträgen naturgemäß eher implizit verhandelt werden.
Manche Beiträge sind aus dieser Perspektive ausdrücklich zu begrüßen. So überzeugt etwa Michail Kroms Beitrag über Politikbegrifflichkeiten im Russland des 16. und 17. Jahrhunderts. Dort gab es weder das Wort "Politik" noch das entsprechende Adjektiv "politisch". Krom geht deshalb onomasiologisch vor, d.h. er arbeitet zunächst mit einem vorgefassten Verständnis von "Politik", um dann herauszufinden, mit welchen Begrifflichkeiten "Politik" in dieser Zeit verhandelt wurde. Überzeugend ist auch Walter Sperlings Beitrag über die Semantiken des Politischen im ausgehenden Zarenreich, der nicht nur mit sehr unterschiedlichen Quellen operiert, sondern diese auch sehr sorgfältig historisch kontextualisiert und erst auf dieser Grundlage interpretiert. Der Vorteil eines an konkreten historischen Prozessen orientierten Zugriffs zeigt sich schließlich besonders in Lars Behrischs Beitrag über die Semantik des Politischen in der Grafschaft Lippe, den er entlang kameralistischer Diskurse nachzeichnet.
Kritisch wären jedoch vor allem die theoretischen und methodischen Grundlagen des Bandes zu betrachten. Willibald Steinmetz' Einleitung über "Neue Wege einer historischen Semantik des Politischen" beispielsweise beginnt mit einer Fehleinschätzung: Dass der Begriff des Politischen "sich selbst unsicher zu werden" scheint, wie er in Anlehnung an Armin Nassehi und Markus Schroer konstatiert, gilt allenfalls für den kleineren, systemtheoretisch orientierten Teil der gegenwärtigen Sozialwissenschaften. Der quantitativ stärkere empirisch-analytische Zweig der Sozialwissenschaften scheint mit seiner nominalen Definition von "politisch" jedenfalls zufrieden; sie bezeichnet jenes Handeln als "politisch", "das auf die Herstellung und Durchsetzung allgemein verbindlicher Regelungen und Entscheidungen (d.h. von 'allgemeiner Verbindlichkeit') in und zwischen Gruppen von Menschen abzielt".[3] Ein solcher Begriff ist auch für eine historische Semantik des Politischen unumgänglich, zumal wenn man sich von der semasiologischen Rekonstruktion des Wortfeldes "Politik" lösen und etwa onomasiologisch danach fragen will, mit welchen Begriffen das, was wir heute als "politisch" definieren, zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort verhandelt wurde.
Schade ist daneben, dass zwar häufig von "historischer Semantik" die Rede ist, in der Sache dann jedoch "Begriffsgeschichte" betrieben wird. Die historische Semantik als Teildisziplin der Sprachwissenschaft würde über die Rekonstruktion historischer Wortbedeutungen hinausgehen und den Bedeutungswandel von Wörtern auf theoretischer Ebene als nicht intendierte Folge intentionalen (rationalen) Handelns begreifen.[4] Dies kann im Rahmen eines Artikels zwar immer nur sehr skizzenhaft geschehen, ist jedoch methodisch grundsätzlich geboten. Die Vernachlässigung dieses Aspektes schränkt das Erkenntnispotential der Begriffsgeschichte ein, denn die Handlungsrelevanz dürfte eine wichtige Eigenschaft von Begriffen sein, die erst ihr Auftreten in kommunikativen Zusammenhängen erklärt. Auch wenn etwa Lars Behrisch explizit davon ausgeht, dass neue Begriffe und Begriffskombinationen "nicht nur Ausdruck, [...] vielmehr auch Träger und sogar Wegbereiter neuer Denk- und Wahrnehmungsmuster" (Behrisch, 293) sein können, so wird in den meisten Fallbeispielen von einer Vorgängigkeit neuer Erfahrungen gesprochen, die sich erst im Anschluss in neuen Begriffen ausdrückt. Das ist auch nachvollziehbar; die alltägliche Sprachökonomie dürfte vielfach ein Prägen neuer Begriffe, die an keine teilbaren Erfahrungen geknüpft sind, in einer möglichen Zukunft aber Erfahrungen ausdrücken könnten, verhindern. Mehr noch, in manchen Beiträgen zeigt sich sogar, "dass selbst außergewöhnliche Erlebnisse wie Verfolgung und erzwungene Emigration überkommene begriffliche Gegenüberstellungen nur schwer aufzulösen vermögen" (Meyer, 416) - eine These, deren Bedeutung für das der Begriffsgeschichte zugeschriebene Erkenntnispotential weiter zu diskutieren wäre.
"'Politik' konnte immer Vieles bedeuten und dabei gleichzeitig für höchst erstrebenswerten Gemeinwohlnutzen und ausgesprochen verwerfliche Verfolgung partikularer Interessen stehen" (Weidner, 366) - dies ist die gemeinsame Erkenntnis der meisten Beiträge eines Bandes, der zwar keine "umfassende Begriffsgeschichte des Politischen" (Klappentext) bietet, aber doch einen reichen Fundus an Materialien und Einsichten, die weiter ausgebaut werden können und müssen. Hierfür müsste man jedoch von einer Geschichte der Begriffe "Politik", "Politiker", "Politisierung" oder "politisch" zu einer Geschichte des Sprechens über "Politik" übergehen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Thomas Mergel: Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), 574-606; Ute Frevert: Neue Politikgeschichte. Konzepte und Herausforderungen, in: Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, hg. von Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt, Frankfurt/New York 2005, 7-26; Achim Landwehr: Diskurs - Macht - Wissen. Perspektiven einer Kulturgeschichte des Politischen, in: Archiv für Kulturgeschichte 85 (2003), 71-117; Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, in: Zeitschrift für Historische Forschung Bh 35, (2005); Andreas Rödder: Klios neue Kleider. Theoriedebatten um eine neue Kulturgeschichte der Politik in der Moderne, in: Historische Zeitschrift 283 (2006); Thomas Nicklas: Macht - Politik - Diskurs. Möglichkeiten und Grenzen einer Politischen Kulturgeschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte 86 (2004), 1-25; Johannes Marx/Andreas Frings (Hg.): Neue Politische Ökonomie und Geschichtswissenschaft. Special Issue of Historical Social Research 32 (2007); Luise Schorn-Schütte: Historische Politikforschung. Eine Einführung, München 2006.
[2] Am klassischen Textfundus einer Begriffsgeschichte orientiert sind am ehesten die Beiträge von Jörn Leonhard, Martin Papenheim und Ingrid Schierle.
[3] Werner Patzelt: Einführung in die Politikwissenschaft. Grundriss des Faches und studiumbegleitende Orientierung, Passau 2001, 23. Ein Missverständnis ist hier zudem auszuräumen: Ein nominalistisches Begriffsverständnis geht keineswegs davon aus, dass "als 'politisch' nur das zu gelten habe, was von den jeweiligen Zeitgenossen so benannt wurde" (Steinmetz, 15; ähnlich auch Bluhm, 418), sondern davon, dass als "politisch" gelte, was der vorgängigen Definition des analytisch beschreibenden Wissenschaftlers entspricht.
[4] Vgl. Dietrich Busse: Historische Semantik, Stuttgart 1987; Rudi Keller: Zeichentheorie. Zu einer Theorie semiotischen Wissens, Tübingen 1995; Ders.: Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache, Tübingen 1994; Gerd Fritz: Einführung in die historische Semantik, Tübingen 2005; Ders.: Historische Semantik, Stuttgart 2006. Gesa Bluhm erhebt im vorliegenden Band zumindest den Anspruch, "dass es beim vorliegenden Thema weniger auf die Einzelbedeutung von Begriffen, sondern auf ihren Platz im allgemeinen Diskurszusammenhang ankommt" (Bluhm, 449).
[5] Donald Davidson: Denken und Reden, in: Wahrheit und Interpretation, hg. von Donald Davidson, Frankfurt am Main 1999, 224-246.
Andreas Frings