Ernst Schubert: Essen und Trinken im Mittelalter, Darmstadt: Primus Verlag 2006, 439 S., ISBN 978-3-89678-578-7, EUR 39,90
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"Essen und Trinken im Mittelalter" - das klingt nach Erbsenzählerei und trockenen Beschreibungen von "ritterlichen" Festmählern. Tatsächlich darf ich hier ein absolut grundlegendes Buch zur Geschichte des Mittelalters vorstellen, das durch seinen eher unkonventionellen Ausgangspunkt - Essen und Trinken - besticht und eine grandiose Gesamtsicht des Mittelalters bietet. Damit lässt es die meisten "Einführungs-" und "Studien-" bücher weit hinter sich, die zur Zeit wie Pilze aus dem Boden schießen. Ernst Schubert ist es gelungen, in seinem posthum erschienenen Band Alltagsgeschichte mit "großer" Geschichtsschreibung zu verbinden. Schuberts Ziel, "über die Geschichte des Essens und Trinkens Aufschlüsse über das Entstehen der Gesellschaft zu gewinnen" (21) - wird mühelos erreicht. Er lässt ein Gesamtpanorama des Mittelalters und stellenweise sogar der Neuzeit entstehen, das sowohl die zentralen Fragestellungen als auch die Forschungsdiskussionen sowie aktuelle Forschungsfragen umfasst und sogar wegweisende neue Fragen aufwirft. Mehr kann ein einzelnes Buch nicht leisten.
Ich möchte dies an einigen Beispielen erläutern: In der Einleitung stellt er die sehr grundsätzliche Frage, ob es überhaupt eine mittelalterliche Gesellschaft gab (25-29). Wie Schubert in seiner Antwort den Bogen von Werner Sombart über eine (scheinbar mühelose) Dekonstruktion und Neudefinition des Begriffs Feudalismus spannt, danach dem Modell der "ständischen Gesellschaft" einschließlich George Duby eine Abfuhr erteilt, kurz die Bedeutung des "gemeinen Mannes" erklärt sowie den Stellenwert von Gesellschafts- und Mentalitätsgeschichte definiert, sucht einfach seinesgleichen.
Und auf diesem Niveau geht es weiter: Im ersten Teil "Essen" wird Hunger bis ins 18. Jahrhundert als kulturhistorisches Phänomen untersucht (Kap. 1). Die Bevölkerungsentwicklung über mehrere Jahrhunderte und eine der grundlegenden Formen menschlichen Zusammenlebens, die Genossenschaft, werden am Beispiel von Salz (und Salinengenossenschaften) erklärt (Kap. 2). Getreide ist ein überzeugender Ausgangspunkt, um historische Periodisierungen zu hinterfragen und den Wandel in der Agrarverfassung vom Früh- zum Hochmittelalter aufzuzeigen (Kap. 3). Die Fronhoforganisation erklärt Schubert an Birnen und Äpfeln und erläutert Kulturkontakt am Auftauchen neuer Obst- und Gemüsesorten wie der Kichererbse (Kap. 8). Gewürze, zu denen er auch Zucker zählt (vgl. 165, bes. Anm. 100), werden hier zu einem Beispiel für Mentalitätsgeschichte (Kap. 9).
Der zweite Teil steht unter dem Thema "Trinken". Auch hier folgt keine ermüdende Aufzählung, sondern Wein als ein zentrales Beispiel für den Wandel der Kulturlandschaft (Kap. 1). Schubert geht hier vom 19. Jahrhundert als dem Zeitalter der "Weinromantik" aus und führt volkswirtschaftliche Grundbegriffe wie Boden, Arbeit oder Kapital am Beispiel des mittelalterlichen Weinbaus ein (185-205). Die Fallstricke von sogenannten universalhistorischen Phänomenen diskutiert er am Beispiel von Bier und schließt das Kapitel mit Überlegungen zum Reinheitsgebot von Bier, das aus dem 19. Jahrhundert stammt (Kap. 2).
Den dritten und letzten Teil widmet Ernst Schubert den "Lebensordnungen als Rahmenbedingungen des individuellen Lebens", die Mentalitäten mit einschließen, wie sie uns beispielsweise in den Grundnahrungsmitteln Brot und Wein in ihrer religiösen Symbolik entgegentreten (241). Im Folgenden geht es deshalb und das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft, immer mit Blick auf Lebensmittel und den daraus bereiteten Mahlzeiten (Kap. 1). Realienkunde betreibt er am Beispiel von Essgeschirr und -besteck (Kap. 2). Rechtsordnungen werden im Begriff des "Brotling" (261f.) ebenso wie im Mahl kommuniziert (Kap. 3). In diesem Band fehlt natürlich das höfische Festmahl nicht: Aber auch hier gelingt es dem Autor, unter den Ordnungsbegriffen Repräsentation und Inszenierung zu neuen Interpretationen zu gelangen (Kap. 5). Sinnstiftung durch gemeinschaftliches, teilweise exzessives Trinken behandeln Kap. 4 und 6. Das abschließende Kapitel widmet der Autor Fragen nach Schriftlichkeit in Bezug auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Diätetik und Kochbücher und spannt den Bogen bis zur modernen Ratgeberliteratur.
Abschließend soll noch einmal kurz Ernst Schuberts Vorgehen skizziert werden. Es wird deutlich, wenn er etwa der 'trendigen' Deutung von Brot und Salz als "Symbole der Gastfreundschaft" eine Abfuhr erteilt und entgegnet: "sie 'waren' Gastfreundschaft" (und eben keine Symbole dafür) (45 und Anm. 7). Forschungsirrtümer wie die angeblichen 100 kg Fleischverbrauch pro Kopf im Jahr, die Wilhelm Abel in die Welt gebracht hat, schafft Schubert, mit Verweis auf die Forschungen von Ulf Dirlmeier und ergänzenden Quellen, en passant aus der Welt und verweist auch noch schnell die moderne Erlebnisgastronomie auf ihren Platz (104-109). Gleiches gilt für den angeblich maßlosen Wein- und Bierkonsum, ein Urteil, das durch Fehlinterpretationen mittelalterlicher Quellen in die Welt kam und sich bis heute ebenfalls hartnäckig hält (171f.). Ärgerlich sind nur die Anmerkungen in Form von Endnoten statt Fußnoten und die äußerst gekürzte Form der Anmerkungen, vermutlich von Verlagsseite dem Autor aufgezwungen. Erfreulich ist hingegen das Register, das dankenswerterweise Sören Kaschke erstellt hat.
Am Ende bleibt mir nur, diesem Buch viele Leser und Leserinnen zu wünschen, die hoffentlich genauso begeistert sein werden wie ich.
Sabine von Heusinger