Karl J. Mayer: Napoleons Soldaten. Alltag in der Grande Armée (= Geschichte erzählt), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, 143 S., ISBN 978-3-89678-366-0, EUR 16,90
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Bei dem Werk des Archivars und Historikers Karl Mayer handelt es sich um einen Beitrag aus der Reihe "Geschichte erzählt". Diese hat den Anspruch "spannende historische Themen" "unterhaltsam und gut lesbar" zu präsentieren. [1] Die Reihe richtet sich demnach nicht unbedingt an die Fachwelt, sondern an ein breiteres Publikum. Dementsprechend stellt Mayer neben seine eigentliche Darstellung Infokästen, die den Leser mit dem unverzichtbaren historischen Hintergrundwissen versorgen.
Der Autor kritisiert zu Beginn seines Buches die bisherige Historiographie zu den Napoleonischen Kriegen. Diese habe sich auf die Heerführer und großen Ereignisse konzentriert, die Soldaten jedoch vernachlässigt. Glücklicher Weise hätten jedoch auch einige der "einfachen Soldaten" literarische Quellen hinterlassen, vor allem "Erinnerungen, Tagebücher, Briefe" (7). Anhand dieser Erfahrungen will der Verfasser den "Alltag in der Grande Armée" rekonstruieren. Der große Vorteil von Erfahrungsberichten aus den unteren Rängen bestehe darin, dass sie "ein weitgehend realistisches Bild des Krieges" zeigten (12).
Der Verfasser beginnt seine Abhandlung mit den Themen "Wehrpflicht, Disziplin und Motivation". Zunächst widmet er sich dezidiert den Revolutionsarmeen der 1790er Jahre. Die große Neuerung der Revolutionskriege seien die "revolutionären Soldaten" gewesen. Es habe sich bei den französischen Soldaten um "Bürger einer Nation" gehandelt, die für die "Ideen" der Revolution gekämpft hätten (14f.). Die napoleonischen Soldaten hätten hingegen nicht mehr für die Verbreitung bestimmter "Ideale" gefochten, sondern "für die Macht Frankreichs" (30). Kritisch hinterfragt Mayer, inwieweit Napoleon selbst die Männer motiviert habe. Das napoleonische Pathos, etwa die neu eingeführte Ehrenlegion, habe keinesfalls alle Soldaten geblendet, die Person des Kaisers in den Briefen französischer Soldaten praktisch keine Rolle gespielt. Erst in der Erinnerung nach den Kriegen sei der Korse zum "Abgott der Soldaten" (37) geworden.
Das folgende Kapitel widmet sich den Themen "Marsch und Quartier". Mayer hebt die Bedeutung hervor, die schnelle Märsche seiner Truppen für die militärischen Erfolge des Korsen gehabt hätten. Sie seien jedoch für die Männer mit bedeutenden Strapazen verbunden gewesen, hätten das Versorgungssystem der Armee überfordert und zu hohen Ausfällen geführt. Im Kontext des Oberthemas "Quartier" befasst sich der Autor mit zahlreichen Details des soldatischen Alltags. Er behandelt Fragen der Hygiene sowie Freizeitaktivitäten. Daneben geht Mayer ausführlich auf die Sexualität der Soldaten ein, wenngleich er einräumt, dass die Quellen dieses Thema eher ausklammern würden. Breiten Raum nimmt die Darstellung der Versorgung der Soldaten mit Kleidung und vor allem Lebensmitteln ein. Mayer erläutert den Wechsel von der Magazinverpflegung des 18. Jahrhunderts zur Praxis der französischen Armeen seit 1792, der Versorgung auf Kosten des jeweiligen Kriegsschauplatzes. Der Autor betont dabei die Probleme dieses Systems in kargen Regionen, etwa Spanien oder Russland.
Das längste Kapitel des Buches schildert schließlich "die Schrecken des Krieges", vor allem das Erlebnis der Schlacht und der Gefangenschaft. Kampfhandlungen würden in den Erinnerungen keine große Rolle spielen, da sie eher selten gewesen seien. Anhand der Quellen kann Mayer jedoch beispielsweise die Belastung der Soldaten durch das Töten der Gegner aufzeigen. Trotz einiger heroisierender Darstellungen seien Feigheit und Desertion an der Tagesordnung gewesen: "Feiglinge und Drückeberger waren in den Armeen häufiger anzutreffen als Helden" (107). Derartig unrühmliche Verhaltensweisen würden in den Quellen verständlicherweise kaum angesprochen. Die medizinische Versorgung der Soldaten in der Napoleonischen Zeit sieht Mayer nicht gänzlich negativ. Das Sanitätswesen sei auf einem "durchaus akzeptablen Stand" (113) gewesen, wenngleich es zahlreiche Engpässe gegeben habe. Die Ärzte seien auch zu komplizierten Operationen fähig gewesen, was der Autor anhand von Quellen belegen kann. Kriegsgefangene seien weitgehend akzeptabel behandelt worden, wenngleich es auch hier zu Gewaltakten gekommen sei.
In seinem Fazit setzt sich Mayer kritisch mit der Verklärung der napoleonischen Kriege bzw. dem Mythos der Grande Armée auseinander. In Wirklichkeit hätten nicht der geniale Feldherr Napoleon und ruhmreiche Schlachten, sondern "Entbehrungen, Heimweh, Todesgefahr, Schmutz, Verwundung, Krankheit, Gefangenschaft" (139) den soldatischen Alltag geprägt. Diese Entzauberung des napoleonischen Mythos ist eine große Stärke von Mayers Werk. Der Autor richtet das Augenmerk seiner Leser bewusst auf banale, in keiner Weise heldenhafte Details des soldatischen Lebens bis hin zur Verrichtung der Notdurft. Einem breiten Publikum werden auf diese Weise ein nüchternes Bild soldatischen Alltags und darüber hinaus auch Einblicke in die schmutzigen Seiten des Krieges gewährt. Mayers Buch kann so gesehen als anregende Einführung in die "Militärgeschichte von unten" gelten.
Es ergeben sich jedoch auch Kritikpunkte. Sicherlich vertritt die Reihe "Geschichte erzählt" keinen streng wissenschaftlichen Anspruch und ein ausführlicher Forschungsüberblick ist daher nicht zu erwarten. Dennoch verwundert es, dass Mayer auf neuere Forschungen zu den Kriegserfahrungen von Soldaten mit keinem Wort eingeht. Etwas dürftig erscheint auch Mayers Quellenkritik. Sicherlich spricht der Autor Probleme an, etwa die nachträgliche Verklärung von Ereignissen. Dennoch hinterfragt er die Authentizität von Egodokumenten nicht grundsätzlich. Mayers eigene Darstellung widerspricht mitunter seiner Eingangsbehauptung, die Erinnerungen einfacher Soldaten erzeugten "ein weitgehend realistisches Bild des Krieges". Hinzu kommt das Problem, dass viele von Mayers Zitaten eben nicht von "einfachen Soldaten", sondern von Offizieren stammen. Zum Thema Homosexualität kann Mayer z. B. lediglich Zitate eines Hauptmanns und eines Leutnants anführen. Hier wird deutlich, dass nur sehr wenige Zeugnisse aus dem Mannschaftsstand überliefert sind, schon allein auf Grund des geringen Alphabetisierungsgrades der Männer. Diese Schwächen machen deutlich, dass es sich bei dem vorliegenden Werk tatsächlich nur um eine grobe Einführung in die Thematik der Kriegserfahrung von Napoleons Soldaten handeln kann. Wer sich eingehender mit diesem Topos befassen will, muss auf jeden Fall auf Werke wie etwa die Arbeit von Julia Murken zurückgreifen. [2]
Anmerkungen:
[1] Vgl. die Angabe auf der Homepage des Primusverlags, URL: http://www.primusverlag.de/detail.php?artikel_id=116549836684 [5.9.2008]
[2] Julia Murken: Bayerische Soldaten im Russlandfeldzug 1812. Ihre Kriegserfahrung und deren Umdeutungen im 19. und 20. Jahrhundert. München 2006, vgl. hierzu meine Rezension in sehepunkte 7 (2007), Nr. 5; URL: http://www.sehepunkte.de/2007/05/10058.html
Sebastian Dörfler