Margot Hamm / Evamaria Brockhoff / Volker Bräu u.a. (Hgg.): Napoleon und Bayern (= Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur; 64), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2015, 335 S., 350 Farbabb., ISBN 978-3-8062-3058-1, EUR 29,95
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"Napoleon [...] ermöglichte eine Reformära, die Bayern zu einem der fortschrittlichsten Staaten Europas werden ließ", schwärmt Ministerpräsident Seehofer im Grußwort zum vorliegenden Ausstellungskatalog. Er räumt freilich ein, "dass die Menschen hierfür gewaltige Opfer bringen mussten" (7). Diese Ambivalenz war der Grundgedanke der 2015 im Bayerischen Armeemuseum in Ingolstadt gezeigten Schau des Hauses der Bayerischen Geschichte. Dessen Leiter Richard Loibl stellt dem Besucher bzw. nun dem Leser etwa 400 "Spitzenobjekte" in Aussicht, "von großer kunsthistorischer Aussagekraft", aber auch "bewegend und zutiefst anrührend durch die mit ihnen verbundenen Geschichten" (13). Mithilfe dieser Exponate möchte Loibl "hinter die Kulissen der Zeit auf die Schicksale der Menschen" blicken und damit eine "Lücke in der bisherigen Ausstellungstradition" schließen (14).
Den Auftakt bilden zwei Aufsätze von Marcus Junkelmann, bekannt als Experimentalarchäologe der Römerzeit, aber auch ausgewiesener Kenner des Ausstellungsthemas. Junkelmann gibt einen Überblick über die Geschichte Bayerns zu Beginn des 19. Jahrhunderts und befasst sich intensiv mit der napoleonischen Propaganda. Bei allen menschlichen und materiellen Opfern warnt er davor, Napoleon mit Männern wie Hitler oder Stalin in eine Reihe zu stellen. Der Korse sei zwar ein "Autokrat" gewesen, aber "kein ideologiebesessener Diktator und Massenmörder". In letzter Konsequenz sieht Junkelmann Napoleon als einen aufgeklärten Herrscher, der nach "Toleranz, [...] Freiheit und Unabhängigkeit des Individuums, Gleichheit vor dem Gesetz" strebte. Trotz der schmerzlichen Kriegsverluste habe insbesondere Bayern von den "zukunftsweisenden Zügen der napoleonischen Herrschaft profitiert" (23), sei doch in dieser Zeit "der Grundstein für das moderne Bayern gelegt" worden (41).
Der eigentliche, reich bebilderte Katalog folgt der Ausstellungsgliederung in zehn Kapitel, beginnend jeweils mit einem Überblickstext der Projektleiterin Margot Hamm. Dann folgen mitunter sehr ausführliche Beschreibungen von rund 300 Exponaten der Ausstellung nebst Hintergrundinformationen von diversen Autoren.
Der Leser erfährt die Vorgeschichte des bayerisch-französischen Bündnisses von 1805 und wie sich Bayern "im Windschatten des Kaisers" modernisierte und zum territorial kompakten Königreich aufstieg. Breiten Raum nehmen die Themenkomplexe Militär und Krieg bzw. Kriegslasten ein, die im Zentrum von sechs Kapiteln stehen. Vorgestellt wird Bayerns letztlich gescheiterter Versuch, eine respektable Militärmacht zu werden. Hamm bemerkt (durchaus positiv konnotiert), dass Bayern "nie auch nur annähernd ein Preußen vergleichbarer Militärstaat" geworden sei und zivile Belange stets "oberste Priorität" gehabt hätten (153). Ausführlich zeigt der Katalog, wie es den Angehörigen der neuen bayerischen Armee in der Schlacht erging, aber auch welch "hohen Preis" die breite Masse der Bevölkerung im Zuge der ständigen Truppendurchzüge zu zahlen hatte. Nach dem Aufstand der Tiroler gegen die bayerische Herrschaft, der zu "Rissen im Bündnis" mit Napoleon führte, widmet sich der Band sehr ausführlich der "russischen Katastrophe" von 1812. Angesichts von fast 30.000 bayerischen Toten ist dies mehr als verständlich. Dann erfährt der Leser, wie Bayern dank des Wechsels auf die Seite der Alliierten 1813 seinen "territorialen Bestand" wenngleich "mit einigen schmerzhaften Einschränkungen" sichern konnte, wie Hamm im vorletzten Kapitel "Adieu Napoleon" bilanziert (265). Zum Schluss wird die bayerische Erinnerungskultur zur Epoche ausgebreitet. Bemerkenswert ist insbesondere die aus heutiger Sicht grotesk anmutende Geschichtspolitik König Ludwigs I., der den Russlandfeldzug auf Seiten Napoleons als patriotischen Opfergang der bayerischen Soldaten unter die Befreiungskriege subsumierte (316).
Daraus ergibt sich ein gelungener Rundgang durch die Napoleonzeit aus bayerischer Sicht, der praktisch keinen Aspekt des Themas auslässt und tatsächlich "Spitzenobjekte" aufbietet. Mit Napoleondevotionalien, prunkvollen Einrichtungsgegenständen im Empirestil und zahllosen Gemälden bewegt sich die Ausstellung zwar im Rahmen der in einer Napoleonschau zu erwartenden Exponatauswahl, kann aber wirklich Exemplare von hohem Schauwert bieten. Spannend wird es bei der Darstellung der innenpolitischen Reformen. Den Weg zum modernen Staat illustrieren beispielsweise Lithografiesteine der Kartenblätter des ab 1808 angelegten bayerischen Katasterwerks. Eine Messstange nach "bayerischem Maß" zeugt vom ehrgeizigen Projekt, das ganze Land genau zu vermessen (116). Bilder und Teile von der Uniformen von Staatsdienern demonstrieren "den hohen Stellenwert des neu organisieren Beamtentums" (117).
Die eigentlichen Höhepunkte sind die Zeugnisse, die in Loibls Sinn die "Schicksale hinter den Kulissen" beleuchten. Die von Gastwirt Lorenz Aloys Gerhauser aus Aichach aufbewahrten Einquartierungszettel durchziehender Truppen etwa bilden eine 15 Meter lange Collage. Sein Versuch, mithilfe dieser Quittungen im Frieden entschädigt zu werden, scheiterte weitgehend und Gerhauser ging Bankrott (142). Ein Taufbuch aus Peiting verweist auf die regelmäßigen Vergewaltigungen von Frauen durch vorübermarschierende Soldaten - gleichgültig, ob nominell "Feind" oder "Freund" des Landes (143). Blutspuren auf der Uniform des 1809 getöteten Grafen von Arco oder der von Säbelhieben gezeichnete Schädel des Freiherren Daniel Mecsery belegen eindringlich die bereits 100 Jahre vor dem Ersten Weltkrieg grauenvolle Realität des Krieges. Eine Papierschere, mit der Freiherr von Hohenhausen in einer Notoperation die erfrorenen Zehen amputiert worden waren (252), zeugt von den Schrecken des Russlandfeldzugs. Votivtafeln geben wenigstens ein paar der im Zarenreich gestorbenen Soldaten Namen und Gesicht.
Der Ansatz, die "Militärgeschichte von unten" in eine Ausstellung einzubeziehen, ist nicht neu. Das Großprojekt "Napoleon und Europa" in Bonn 2010 tat dies bereits explizit. Das Wehrgeschichtliche Museum in Rastatt zeigte 2006 den "Preis der Krone" bezogen auf Baden und Württemberg. Aber zweifellos ist die Umsetzung hier besonders eindrücklich gelungen.
Die grandiose Präsentation der Kriegsopfer geht freilich einher mit einem starken Übergewicht militärischer Themen und Objekte insgesamt. Dies ist angesichts des Präsentationsortes und der militärischen Prägung der Zeit verständlich. Allerdings hätte man vielleicht die Militaria, die eher Schauwert besitzen als Zeugnisse individueller Schicksale zu sein, reduzieren können, beispielsweise die zahllosen Uniformen. Die Ausrüstung der bayerischen Infanteristen taucht als Rekonstruktion und in Teilen erneut im Original auf, was zu etwas lästigen Wiederholungen führt. Dass die Gewehrkugeln kleiner waren als der Gewehrlauf, um das Laden der Waffen zu erleichtern und daraus eine hohe Streuung resultierte, wird dem Leser gleich an drei Stellen eingebläut (169, 175 und 179). Eine gewisse Reduktion in diesem Bereich hätte beispielsweise ökonomischen Aspekten mehr Raum bieten können, welche keinen eigenen Abschnitt erhalten, sondern erst im vorletzten Kapitel auftauchen.
Positiv formuliert bleibt festzuhalten, dass der vorliegende Band auch Militariafreunden eine Fülle interessanter Objekte und Informationen bietet.
Sebastian Dörfler