Ekkehard Ellinger: Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus, 1933-1945, Edingen-Neckarshausen: deux mondes 2006, X + 598 S., ISBN 978-3-932662-11-9, EUR 44,00
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Nachdem mittlerweile beinahe jedes Universitätsfach die Geschichte seiner Disziplin während der Zeit des Nationalsozialismus gründlich aufgearbeitet hat, musste die Orientalistik bis 2003 warten, als Ekkehard Ellinger mit der hier vorliegenden Studie am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der FU Berlin promoviert wurde. Der Grund für diese sträfliche Vernachlässigung der eigenen Vergangenheit lag daran, dass die Fachvertreter bisher argumentiert haben, die Orientalistik sei in der Zeit von 1933 bis 1945 eigentlich eine Disziplin gewesen, die für das nationalsozialistische Zusammenspiel von Wissenschaft, Politik und Ideologie nur von geringem theoretischem wie praktischem Nutzen war. Lange galt das pauschale Diktum von Fritz Steppat: "Es gab Opportunismus, aber kaum wirklich an dieser Ideologie orientierte Arbeiten." [1]
Die Studie von Ellinger, in der die Orientalistik die Bereiche der Arabistik, Iranistik, Islamwissenschaft, Semitistik und Turkologie umfasst, möchte diese Sicht auf die Probe stellen und damit der Frage nachgehen, ob dieses Fach nicht doch eine Dienstleisterin der Verwissenschaftlichung von nationalsozialistischen Phantasien, Mythen, Legenden und Ideologien war. Und in der Tat, das sei bereits an dieser Stelle gesagt, bietet das 2006 im Deux-Mondes-Verlag erschienene Werk auf der Grundlage gründlicher Recherchen ein umfassendes und geordnetes Bild der personellen, organisatorischen, institutionellen und inhaltlichen Interaktion von Orientalistik und Orientalisten und dem NS-Regime.
Inhaltlich setzt der Verfasser zwei sinnvolle Schwerpunkte: A. Die organisatorische, institutionelle und strukturelle Verankerung der Orientalisten sowohl im orientalistischen wie auch im nationalsozialistischen Organisations- und Institutionsgeflecht. B. Die Wissenschaftsinhalte der Fachvertreter.
In dem ersten Hauptteil seiner Dissertation zeigt der Autor ausführlich, an welchen wissenschaftsgeschichtlichen, wissenschaftspolitischen, parteipolitischen, außenpolitischen und kriegspolitischen Prozessen das Netzwerk der Orientalistik strukturell beteiligt gewesen ist. Nach einer kurzen Einleitung, in der die Entwicklung der organisierten und institutionalisierten Orientalistik ab dem 19. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Republik skizziert wird, und einer personenorientierten Darstellung unterschiedlicher Verhaltensmuster während der NS-Zeit schließen sich ausgezeichnete Ausführungen zu privaten Organisationen (DMG, Deutscher Verein zur Erforschung Palästinas, Deutsche Orient-Gesellschaft, der Deutsche Orient-Verein, das Ahnenerbe der SS etc.), staatlichen Institutionen (Bibliotheken, Museen, Wissenschaftsakademien, Universitäten etc.) sowie zur auswärtigen Kulturpolitik der Jahre bis 1939 (AA, DAI, Orient-Institut der DMG, Gastprofessuren, wiss. Kongresse, Auslandsreisen) bzw. zwischen 1939 und 1945 (RM für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Wehrmacht und Geheimdienste, RM für die besetzten Ostgebiete, SS und das RM des Inneren, AG Turkestan, FS Orient etc.) an.
Ellinger kann am Ende des Kapitels das plausible Fazit ziehen, dass die deutsche Orientalistik der Jahre 1933 bis 1945 insgesamt "als ein Netzwerk von Wissenschaftlern [erscheint], die - durch ihre Parteimitgliedschaft, ihr persönliches Verhalten, ihre privatwissenschaftliche Vereinstätigkeit, ihre Mitarbeit in den staatlichen Institutionen innerhalb und außerhalb des Deutschen Reiches sowie der Ministerialbürokratie, der Wehrmacht, den Geheimdiensten und der Partei - dem NS einen im Rahmen des Möglichen hohen Grad an Organisations-, Personen- und Aktionspotential zur Verfügung stellten, den dieser auch zu nutzen verstand." (S. 272) Der angesichts der repressiven Maßnahmen des NS-Regimes durchaus spürbare strukturelle Niedergang der Orientalistik an den staatlichen Institutionen wurde, so Ellinger, kompensiert durch die Aufwertung der Orientalistik im außen- und kriegspolitischen Diskurs. In diesem Zusammenhang kann man die Arbeitstagung der deutschen Orientalistik (September/Oktober 1942) im Rahmen des Kriegseinsatzes deutscher Geisteswissenschaftler, für welche nahezu die gesamte orientalistische Elite rekrutiert werden konnte, als ein Paradebeispiel für das funktionierende Zusammenspiel von Personen, Vereinen, Institutionen, Wehrmacht, Partei und Ministerialbürokratie ansehen.
Im zweiten Hauptteil der Qualifikationsschrift wertet der Verfasser sehr gründlich und auf hohem Abstraktionsniveau die wissenschaftliche orientalistische Literatur aus, die während der 12-jährigen Herrschaft der Nationalsozialisten produziert wurde. Das Ergebnis ist eindeutig und kann vollkommen überzeugen: "Betrachtet man nun die orientalistische Literatur der Jahre 1933-45 unter Berücksichtigung ihrer historischen und gegenwartspolitischen Ausrichtung in ihrer Gesamtheit, so ist festzustellen, dass sie - obwohl von verschiedenen Personen zu Papier gebracht - ein relativ geschlossenes ideologisches System darstellt." (S. 417) "Als Grundlage hierfür dienten", so Ellinger weiter, "die historischen Ausdeutungen des Orients, welche die Hochkulturen des Orients ständig in einen indogermanischen und arischen Zusammenhang rückten. Dieser Zusammenhang diente als Grundsatzideologie wiederum der historischen Legitimation des kulturellen, herrschaftspolitischen, rassischen und völkischen Hegemonialanspruchs des deutschen Reiches. Die verschiedenen ideologischen Teilaspekte gestaltete man variabel, wobei man die realpolitischen Interessen des Deutschen Reiches mit denen der analysierten Zielländer in Einklang zu bringen versuchte. So herrschte kein einheitliches völkisches Denken vor, sondern das Nebeneinander verschiedener Volkstumskonzepte, die, je nachdem wie es die Propaganda verlangte, als religiöse, sprachliche, nationalstaatliche oder überstaatliche Konzepte konstruiert wurden. Die ebenfalls beliebig ausdehnbare Rassenkunde wurde so ausformuliert, dass man einerseits die Spitzenposition der arischen bzw. nordischen Rasse betonte, andererseits die potentiellen deutschen Bündnispartner im Orient nicht abschreckte." (S. 417-18)
Insgesamt gesehen gibt es nach der Lektüre dieses über weite Strecken sehr guten Buches keinen Zweifel mehr, dass das Gerede vieler älterer Fachvertreter von einer im Grunde unpolitischen Orientalistik während der NS-Zeit zu revidieren ist. Die Disziplin hat sich im Gegenteil in einem hohem Maße mit dem Nationalsozialismus identifiziert. Man erkennt eine Orientalistik, "die sich der Verwissenschaftlichung von Mythen und Ideologien verpflichtet hatte, die sich von dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit gelöst hatte und die zum nationalen Dienstleistungsbetrieb verkommen war." (S. 420) Die orientalistische wissenschaftliche Elite hatte sich, wie es Ellinger treffend ausdrückt, kollektiv in den Dienst der NS-Politik gestellt.
Neben einem sehr nützlichen Anhang mit den Kurzbiographien der Orientalisten, die zwischen 1933 und 1945 in irgendeiner Form aktiv und produktiv waren, finden wir noch ein Schlusskapitel, das neben einem Fazit und einigen interessanten Anmerkungen zum Emigrationsverhalten deutscher Fachvertreter auch einen Ausblick auf die deutsche Orientalistik nach 1945 gibt. Diesen letzten Teil hätte sich der Autor schenken können, da er sehr viel Unsinniges und Unzutreffendes enthält. Die jüngere Geschichte des Faches muss erst noch geschrieben werden, aber das braucht nicht unbedingt die Aufgabe von Ekkehard Ellinger zu sein. Es reicht durchaus schon aus, die Epoche davor viel besser als zuvor ausgeleuchtet zu haben.
Anmerkung:
[1] Fritz Steppat: "Der Beitrag der deutschen Orientalistik zum Verständnis des Islam, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 35 (1985), 386-390, hier 386.
Stephan Conermann