Kristen Stilt: Islamic Law in Action. Authority, Discretion, and Everyday Experiences in Mamluk Egypt, Oxford: Oxford University Press 2011, XVI + 238 S., ISBN 978-0-19-960243-8, GBP 55,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Naghmeh Sohrabi: Taken for Wonder. Nineteenth-Century Travel Accounts from Iran to Europe, Oxford: Oxford University Press 2012
Sarah Phillips: Yemen and the Politics of Permanent Crisis, London / New York: Routledge 2011
Sabine Damir-Geilsdorf: Die "nakba" erinnern. Palästinensische Narrative des ersten arabisch-israelischen Kriegs 1948, Wiesbaden: Reichert Verlag 2008
Andrew J. Newman (ed.): Society and Culture in the Early Modern Middle East, Leiden / Boston: Brill 2003
In sämtlichen vormodernen arabischen Gesellschaften stellt der muḥtasib eine zentrale Kontaktperson zwischen den Herrschern und der Bevölkerung dar, denn ihm kamen weitgehende Befugnisse über die Märkte zu. Der Markt war aber ein sensibler Bereich, in dem sich entscheiden konnte, ob der Sultan selbst seinen Pflichten als gerechter Herrscher nachkam oder nicht. Dennoch ist dieses Amt in der bisherigen Forschung zu den Institutionen des Mamlukensultanats weitgehend unbehandelt geblieben. Kristen Stilt hat mit Islamic Law in Practice nun ein Buch vorgestellt, das sich bemüht, diese Lücke anhand von Untersuchungen zu den ägyptischen Städten Kairo und Fustat zu schließen, und das mit Sicherheit in den kommenden Jahren zu einem Standardwerk zu diesem Thema avancieren dürfte. Nicht nur ist Stilts Werk die erste Monographie über den muḥtasib in der Mamlukenzeit; darüber hinaus stützt sich die Studie auf eine überzeugende Methodik, die Stilt in Auseinandersetzung mit Ansätzen der Forschung über "praktisches Recht" (law in practice) entwickelt hat.
Das Buch ist in neun Kapitel unterteilt, wobei die ersten beiden der historischen und institutionellen Kontextualisierung der Figur des muḥtasib dienen. Die konkrete Position dieses Amtes innerhalb der staatlichen Bürokratie sowie vis-á-vis der breiteren Bevölkerung ist schwer zu fassen, weshalb Stilt in den übrigen sieben Kapiteln anhand von Fallbeispielen vorgeht. Drei Leitfragen ordnen die Untersuchung. Ausgehend von einer grundsätzlichen Bestimmung der Funktionen des Amtes ("best described as an inspector of public places"), nähert sich Stilt der historischen Realität über zwei zentrale Fragen an, die den muḥtasib jeweils in einem eigenen Spannungsverhältnis positionieren [1]:
(1) Woher bezog der muḥtasib seine Autorität: "He took direction from the rulers, the sultan foremost among them, and also was guided by legal doctrine (fiqh) as formulated by the jurists, combining these two sources of law in one site of authority."
(2) Wie setzte der muḥtasib diesen Autoritätsanspruch in der Praxis um: "The actions of the muḥtasib show the interplay between law and society on a day by day basis, including the responses of the individuals whom the official attempted to regulate."
Damit umreißt Stilt bereits auf der ersten Seite das Programm, dem die gesamte Abhandlung folgt. Sie stellt überzeugend dar, wie sich die Entscheidungen eines muḥtasib sowohl an normativen rechtlichen Vorgaben als auch an konkreten Sachzwängen und Umständen orientierten und wie unterschiedlich der Freiraum war, den verschiedene Amtsträger in ihren Entscheidungen gewinnen konnten. Darüber hinaus untersucht sie an diesem Beispiel, wie sich Menschen in ihrem Verhalten an rechtlichen Normen orientierten und wann sie bestimmte Regeln befolgten, missachteten oder sogar herausforderten.
Das erste Kapitel umreißt den historischen Kontext, beschreibt die Entwicklung der Städte Kairo und Fustat bis zum Ende der Mamlukenherrschaft, geht auf die verschiedenen Rechtsquellen ein und steckt die verschiedenen Institutionen jener Zeit ab, die an der Rechtsprechung und -durchsetzung beteiligt waren. Neben dem doktrinären Recht, das von den Juristen ausgelegt wurde (fiqh), war der Sultan die zweite wichtige Rechtsquelle, dessen Entscheidungen sich jedoch nicht an kodifizierten Vorschriften, sondern am öffentlichen Interesse und an tagespolitischen Notwendigkeiten (siyāsa) orientierte. Dies galt insbesondere für Bereiche, die von den Juristen wenig oder gar nicht behandelt wurden: der Sultan erhob Steuern, entschied über Krieg und Frieden, verfolgte und ahndete Verbrechen - er griff auch wirtschaftspolitisch ein, vor allem, wenn es um die Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln ging (26). Das Verhältnis von Juristen und Herrschern war nicht ohne Spannungen. Bisweilen kooperierten sie, zu anderen Zeit konkurrierten sie miteinander, aber zu keinem Zeitpunkt waren die Aufgabenbereiche fest zwischen Sultan und Juristen abgesteckt: "The sultans involved themselves in topics that had elaborate doctrinal rules, and the jurists concerned themselves with matters of broader social policy, each based on their own interests. As a result, inhabitants of Cairo and Fustat were governed by both sources in all aspects of public life." (4)
Im zweiten Kapitel positioniert Stilt den muḥtasib in dem Spannungsverhältnis zwischen Juristen und Sultan. Aufgrund seiner Schlüsselposition zwischen diesen beiden Quellen seiner Autorität besaß der muḥtasib ein gewisses Maß an Freiraum in seinen Entscheidungen. Inwieweit er diesen ausnutzte oder ausnutzen konnte, hing aber immer auch von der Persönlichkeit und den Qualitäten des jeweiligen Amtsinhabers ab. Stilt identifiziert vier Gruppen von Menschen, die in der Mamlukenzeit das Amt des muḥtasibs innehatten. Juristen stellten eine Minderheit unter den Amtsinhabern, während zumindest bis in die Mitte der Mamlukenzeit Verwaltungsbeamte den Großteil der muḥtasibs stellten. Ab dieser Zeit jedoch drängten zusehends Leute in diese Position, die aus dem Militär kamen oder ihm nahe standen, bis sie es gegen Ende der Mamlukenherrschaft weitgehend monopolisiert hatten (68).
Der jeweilige Hintergrund eines muḥtasib hatte großen Einfluss darauf, wie er Probleme anging und zu lösen versuchte. Dies wird deutlich in den Kapiteln 3 bis 9, die jeweils einen Aufgabenbereich des muḥtasib behandeln, die sich, beginnend mit dem Kapitel über Gebetspraktiken und endend mit dem über die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, von Bereichen, in denen die Juristen genaue Vorgaben machten, zu solchen bewegen, zu denen ihre Werke beinahe gar nichts zu sagen hatten. Die übrigen Kapitel zu der Bestrafung von mehr oder weniger ernsten Verbrechen und Vergehen (Kap. 4), die der muḥtasib ohne Konsultation eines Richters ahnden konnte (taʿzīr); der Behandlung von Nichtmuslimen (Kap. 5), der Regulierung der Märkte (Kap. 6 und 7) sowie der Eintreibung von Steuern und der Ausgabe neuer Münzen (Kap. 8) reihen sich dementsprechend ein, "ranging from areas of intense doctrinal concerns to those dominated by matters of policy" (11). In jedem dieser Kapitel zeigt Stilt anhand mehrerer Fallstudien auf, wie unterschiedlich sich die Rolle des muḥtasib in der Praxis gestaltete.
Das ungewöhnlichste Fallbeispiel, das Stilt anführt, ist wohl das der sprechenden Mauer (9.1, 194-97). Nachdem ein gewisser Ibn al-FīŠī aus einer Wand seines Hauses eine unsichtbare Stimme gehört hatte, strömten Menschen aus der ganzen Stadt dorthin. Der muḥtasib begann Nachforschungen und nach dessen Geständnis verhaftete er Ibn al-FīŠī, seine Frau und einen Šayẖ, der bei ihnen wohnte. Der muḥtasib brachte sie zur Bestrafung zu dem Emir Barqūq, der sie auspeitschen ließ und - an ein Kreuz geschlagen (tasmīr) - durch die Stadt paradierte. Der muḥtasib entschloss sich in diesem Fall zu einem harten Vorgehen, weil er darin eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung (fitna) sah. Nachdem er die Ermittlungen durchgeführt hatte, überließ er die Bestrafung Barqūq, der in späteren Jahren noch zum Sultan aufstieg. Wie Stilt anmerkt, hätte ein anderer Amtsinhaber an seiner Stelle ganz anders auf diesen Fall reagieren können.
Anhand der Fallstudien zeigt Stilt deutlich, wie unterschiedlich die Bedeutung des muḥtasib in seinen verschiedenen Aufgabenfeldern war. So erscheint er in einigen Fällen als unabhängiger Akteur; in anderen handelte er erst nach Absprache mit dem Statthalter (wālī) von Kairo oder anderen Emiren und bisweilen erscheint der muḥtasib nur als Statist neben dem wālī oder dem Sultan. Hinzu kommt, dass seine Ressourcen für die Überwachung des öffentlichen Raumes sehr begrenzt waren. Wie Stilt im Fall 6.1. zeigt, rückten die Märkte in der Peripherie Kairos und Fustats erst in den Blick des muḥtasib, wenn sie eine gewisse Größe erreicht hatten. Ansonsten war es weit wichtiger, die Kontrolle über die zentralen Marktstraßen aufrechtzuerhalten.
Stilts Buch ist ein wertvoller Beitrag für die Erforschung der Institutionen des Mamlukensultanats und ihrer Interaktion mit der Bevölkerung. Stilt gelingt es mittels des fallbezogenen Zugangs, die Gestaltungsmöglichkeiten einzelner muḥtasibs - und deren Grenzen - aufzuzeigen ohne in absolute Urteile zu verfallen. Dadurch transportiert bereits die Form des Buches, was sie inhaltlich vermitteln will, nämlich, dass Recht niemals losgelöst von der jeweiligen historischen Situation betrachtet werden kann. Es ist nicht ewig gültig, sondern wird in der Auslegung und Umsetzung zwischen den verschiedenen Autoritäten, aber auch zwischen diesen und den jeweils Betroffenen immer wieder neu ausgehandelt. Rechtspraktiken sind lebendig und verändern sich; das ist die Botschaft, die dieses Buch auch über die Grenzen der Mamlukengeschichte und selbst der Islamwissenschaft hinaus lesenswert macht.
Anmerkung:
[1] Dies und die folgenden Zitate, Stilt: Islamic Law, 1.
Torsten Wollina