Dolores L. Augustine: Red Prometheus. Engineering and Dictatorschip in East Germany, 1945-1990, Cambridge, Mass.: MIT Press 2007, xxx + 380 S., ISBN 978-0-262-01236-2, GBP 25,95
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Mit dieser Technik- und Sozialgeschichte der DDR liegt die erste Gesamtschau ihrer prägenden Technikergeneration vor. Sie integriert eine Geschichte der Hochtechnologie, der Bildungswege von Technikern und vor allem diejenige ihrer politischen Behauptungskämpfe gegen ein diktatorisches, dezidiert antibürgerlich auftretendes Parteiregime. Die Autorin hat eine luzide Bilanz aus der Perspektive jener Techniker geschrieben, die mit dem latenten Resistenzpotenzial ihres Erfindergenies immer produktiv umzugehen wussten, ohne die Machthaber aus ihrem Kalkül auszugrenzen. Denn tendenziell stellten sie die Diktatur in ihrem umfassenden Geltungsanspruch immer dann in Frage, wenn sie Entscheidungsprozesse beeinflussten, die außerhalb des Beurteilungsvermögens der machtbewussten SED-Autoritäten lagen. Infolgedessen stand die DDR immer im Zeichen von Duldung und Förderung eines schwer kontrollierbaren Innovationspotenzials, das, wie Augustine bilanziert, die DDR hätte besser machen können, als sie es gewesen war, hätte man es nur gewähren lassen (343-351).
Die Autorin hat ein sehr nachdenklich machendes Buch geschrieben, denn sie erklärt das technologische Scheitern der DDR als eine Fehlentwicklung auf lange Sicht, der sich zahllose individuelle Berufsschicksale entgegenstemmten. Dem widerständigen Mitmachen von aufstiegsorientierten Modernisierern lag die Einsicht in eine prekäre Zeiterfahrung nach dem NS-Regime zugrunde. Sie schmiedete neue, brüchige, aber gesellschaftspolitisch wirksame Koalitionen zwischen antagonistisch definierten Klassen, ohne den Graben zwischen dem Selbstbewusstsein der einen und der anderen, die die politische Macht usurpiert hatten, überwinden zu können.
Dazwischen lag auch die schmerzhafte Erfahrung der jüngsten deutschen Geschichte, lag die Angst vor politischem Machtverlust und letztlich auch vor unkontrollierbaren, auch kriegerischen Konflikten an der Frontlinie des Kalten Kriegs und schließlich der permanente Rechtfertigungszwang gegenüber dem alles kontrollierenden Sowjetregime der Besatzer und der immer präsenten "Freunde" in der DDR. Ohne Vertrauen in eine autonome Loyalität der Techniker-Erfinder, denen beileibe nicht alles egal war, was der DDR-"Sozialismus" schuf, riss die SED-Kamarilla aber mit dem einen Arm ein, was jene mit dem anderen aufgebaut hatten.
Augustine hat eine disziplinierte, chronologisch und thematisch auf zentrale Felder der Industriegeschichte der DDR abzielende Innovationsgeschichte aus der Sicht ihrer führenden Akteure in den wichtigsten Forschungsabteilungen der DDR geschrieben. Sie fokussiert auf die stilbildenden Besonderheiten der technologischen Leitsektoren aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Auf die Halbleiterproduktion, auf die Mikroelektronik, auf Laser, die Computertechnologie und die Atomkraft. Visionäre Leitbilder kommen ebenso zu ihrem Recht wie die Praxis des Aushandelns von Entwicklungschancen in der politisierten Planbürokratie. Damit folgt sie konsequent der neueren Ausrichtung der internationalen Technikgeschichte auf eine Verknüpfung technologischer und sozialer sowie kultureller Entwicklungsfaktoren.
Die aus langjährigen Forschungen in Deutschland erwachsene Studie der New Yorker Geschichtsprofessorin beginnt mit einer komprimierten Begründung der leitenden Fragestellung in der Einleitung, die gleichzeitig einen höchst lesenswerten Forschungsüberblick präsentiert. Sie fragt nach den Technologiepotenzialen der DDR und ihren Begrenzungen. Von der ehemals weltweit führenden Technologielandschaft waren nur noch geplünderte Ruinen übrig geblieben, in denen eine dennoch exzellente erste DDR-Forschergeneration den internationalen Anschluss suchte.
Anschließend entfaltet die Autorin ihren außerordentlich weittragenden neuen Forschungsansatz einer auf die Führungsschicht der DDR-Erfindergeneration begrenzten Biografiegeschichte, die gleichzeitig eine Technologiegeschichte und ihre Aneignungsprozesse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beinhaltet. Sie verknüpft diesen Ansatz mit der politischen Ereignisgeschichte, sofern diese die Lebensläufe dieser führenden Technikergeneration in den knapp 45 Jahren der SBZ und späteren DDR betraf.
Die Darstellung beginnt mit den in die Sowjetunion verschleppten, etwa 1000 Spitzenforschern aus der Atomtechnologie, dann folgen drei chronologische Kapitel über die politischen Veränderungen in den 1950er und 1960er Jahren, also den goldenen Jahren des DDR-Wirtschaftswunders nach 1953 und seiner erfolglosen Fortsetzung in den NÖSPL-Wirtschaftsreformen der späten Ulbrichtära. In Kapitel 5 zeigt Augustine, wie stark einzelne, ganz besonders prominente Forscher unter Stasidruck gerieten, obwohl sie Spitzenleistungen erbrachten. Kapitel 6 enthält die äußerst lesenswerte Darstellung der späten Technikutopien der DDR. Sie waren universal und menschheitsbeglückend angelegt und sie lieferten mit einer subtilen, massenpsychologisch ausgereizten Propagandatechnik in den pittoresken Mosaik-Comics einmalige Chancen zur Propagierung eines populären Technikerimages. Leider kann über die Verbreitung dieser außergewöhnlich aufschlussreichen Bildergeschichten wenig gesagt werden.
In Kapitel 7 zeigt Augustine das ganze Potenzial einer neueren Gesellschaftsgeschichte im Schnittfeld von Biografie-, Politik-, Innovations- und Diskursgeschichte auf, indem sie die Ergebnisse eines begleitenden Oral-History-Projektes über die retrospektive Technikererfahrung, auch in der Genderperspektive, auswertet. Hierbei resümiert sie zentrale qualitative Ergebnisse, welche die neuere DDR-Erforschung substanziell bereichern.
In Kapitel 8 beendet die Autorin ihr Buch mit langen Ausführungen über das Scheitern der Mikroelektroniktechnologie am wichtigsten Innovationsstandort Jena, der neben dem traditionellen akademischen Zentrum an der TU Dresden eine selbsttragende Innovationsdyanmik erreicht hatte. Durch die extensive Militarisierung der Mikroelektronik, die seit 1976/77 zum wichtigsten Industrialisierungsprogramm der DDR aufgebaut worden war, verkümmerten jedoch ihre Innovationspotenziale. Dieses Scheitern war auch der "stasification of Zeiss" (313) geschuldet, womit die Autorin ihr zentrales Erklärungsargument, dasjenige der irrwitzigen politischen Überformung von Technologiepotenzialen in der DDR-Ökonomie, erneut zur Geltung bringt.
Das Buch von Augustine hat das Zeug zum Standardwerk über die Technologiegeschichte der DDR, weil es diese aus der Sicht ihrer Akteure, jener Macher aus den Forschungszentren und Industrieunternehmen schreibt. Oftmals mit großem Genie und noch größerer Kompromissfähigkeit ausgestattet, meisterten sie den Spagat zwischen den politischen Ansprüchen des Regimes und den Gesetzen des Forscherdaseins. Auch wenn es sich dabei nur um wenige prominente Eliteangehörige handelt, die besonders großem Druck ausgesetzt waren, lassen sich daraus die Parameter einer Gesellschaftsgeschichte ableiten. Sie beleuchten die Innensicht des Experiments Modernisierungssozialismus Marke DDR, das, wie die Autorin zu Recht betont, immer auf Massenmobilisierung angelegt war. Darin lag möglicherweise die größte Chance, die Kohäsionskräfte in der DDR-Gesellschaft gegen den drohenden Verfall der diktatorischen Autorität der Parteistrategen abzusichern. Nicht zufällig kumulierte diese Ende der 1980er Jahre, als das Scheitern aller Hochtechnologieutopien offenkundig geworden war. Für die gesellschaftspolitischen Aushandlungsprozesse zwischen Erfindergenies und Politikerkasten, die auch für jede andere Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts von Bedeutung waren, liefert "Red Prometheus" wesentliche Anregungen, wie man leitende Fragestellungen und luzide Erklärungsangebote aus einer unerschöpflich breit gelagerten und stellenweise äußerst kurzweilig zu lesenden Empirie ableiten kann. Besondere für die Analyse jener Vergleichsgesellschaft, die der DDR am nächsten lag, diejenige der Sowjetunion, setzt ihr Buch Maßstäbe einer zielgerichteten Hermeneutik, die die Akteure nicht aus dem Blickfeld einer Makrogeschichte verliert.
Georg Wagner-Kyora