Rezension über:

Annette Schuhmann (Hg.): Vernetzte Improvisationen. Gesellschaftliche Subsysteme in Ostmitteleuropa und in der DDR (= Zeithistorische Studien; Bd. 42), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, 251 S., ISBN 978-3-412-20027-5, EUR 34,90
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Rezension von:
Georg Wagner-Kyora
Technische Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Georg Wagner-Kyora: Rezension von: Annette Schuhmann (Hg.): Vernetzte Improvisationen. Gesellschaftliche Subsysteme in Ostmitteleuropa und in der DDR, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9 [15.09.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/09/15135.html


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Annette Schuhmann (Hg.): Vernetzte Improvisationen

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Netzwerke unterhalb und innerhalb der politischen Hierarchien im europäischen Staatssozialismus zu untersuchen, war eine überfällige Forschungsfrage, der sich die Autorinnen und Autoren des von der Potsdamer Nachwuchswissenschaftlerin Annette Schuhmann herausgegebenen Sammelbandes in gewohnter Sorgfalt angenommen haben. Solche "Substrukturen" politischer Herrschaftsteilung (Schuhmann) bewirkten Kooperation dort, wo die Staatsmacht einmal Pause machte. Das war vor allem in diversen Branchen der Staatsplanökonomie erforderlich, fand allerdings vor allem auf der lokalen Ebene statt und reichte, als interne Machtabsicherung, auch in höchste Elitenzirkel hinein, sodass eine multiperspektivische Herangehensweise angebracht ist.

Diese wird in sechs empirischen und vier eher konzeptionellen Aufsätzen aufgefächert, wobei der größte Ertrag eindeutig aus den Fallstudien resultiert. Eine neue Methodik, wie etwas irreführend angekündigt, ist mit dieser Herangehensweise allerdings nicht verknüpft, handelt es sich doch um traditionelle Politikfeldanalysen aus dem Archivbestand oder der Literatur über politische Herrschaftsträger der formalen Hierarchien des Staatssozialismus. Fragen nach dem intentionalen Deutungshorizont von Eliten werden ausgeklammert. Sie haben diese auf das materiell Fassliche personaler Verbindungslinien zwischen Herrschaftsträgern konzentrierte Version einer politischen Kulturgeschichte noch nicht erreicht. Damit führt Schuhmann einen konventionellen Ansatz in der neueren Totalitarismusforschung weiter, der, obzwar anschlussfähig an die neuere Gesellschaftsgeschichte westlicher Machthierarchien, die bereits mit dem Begriff des Habitus und der politischen Mentalität arbeitet, weitgehend im Duktus staatszentrierter Herrschaftsgeschichte verharrt. Das hat seinen Platz in der deutschen Geschichtswissenschaft und das ist auch gut so.

So zeigt Peter Heumos die unüberblickbare Vielfalt von Lohnregelungen in der verstaatlichten Industriewirtschaft der Tschechoslowakei als ein Produkt dezentraler Netzwerkbeziehungen zwischen den Lohnbüros der Betriebe und den Gewerkschaften auf. Diese genehmigten sich in den 1950er Jahren gegenseitig Zulagen, ohne die Prager Zentrale einzubeziehen. Dierk Hoffmanns Beitrag zum politischen Entscheidungsprozess über das Sozialversicherungssystem der DDR belegt die "Marginalisierung der Länder" durch einen kleinen Elitenzirkel bis 1949. Andreas Oberender beschreibt das persönliche Netzwerk Breschnews als einen regionalen und generationsspezifischen Provinzialismus radikaler Sorte, der noch ganz in den Traditionen eines russischen Patronageverhaltens wurzelte. Heinz Mestrup summiert die Doppelung von Herrschaftsnetzen in den Verwaltungsbeziehungen auf regionaler Ebene der DDR. Und Malgorzata Mazurek sowie Arpad von Klimo zeigen konflikthaltige Machtkonstellationen in Polen und Ungarn auf, welche Netzwerke in den Ruch der Dissidenz brachten.

Es ist dieser innereuropäische Vergleich auf der Grundlage systematischer Fragestellungen, welcher die Sammelbände aus Potsdam gelegentlich so wertvoll macht. Wenngleich der Ausschnitt eng gewählt ist, wird doch immer ein Stück weit europäische Unionsgeschichte im Stadium ihrer Vorvorläufer sichtbar. Gerade der besonders ertragreiche Aufsatz Mazureks erreicht diese Qualität und kann als Musterbeispiel einer international informierten und empirisch breit aufgestellten Querschnittsanalyse dienen. Das "idiom of cliqueshness" wurde in den 1980er Jahren in Polen zu einem zentralen Feindbild aufgebaut, um dezentrale Herrschaft in den Kommunen oder woanders, in den Staatsbetrieben, zu denunzieren und fallweise auch juristisch zu verfolgen. Sie war allerdings weniger stark verbreitet, als es intern den Anschein hatte, denn nur 20 Prozent aller Entscheidungen wurden ohne Einfluss der Wojewodschafts- oder der zentralen Ebene gefällt. Mazurek verarbeitet eine breite, theoretisch informierte, aus dem angelsächsischen Sprachraum stammende Literatur, und sie versteht es außerordentlich klug, diese mit der vorhandenen empirischen Forschung aus Polen über lokale Netzwerkbeziehungen zu verknüpfen. So kann sie zeigen, dass es dort ein ausgeprägtes symbiotisches Unterstützerverhalten gegenüber den immer Not leidenden staatlichen Betrieben gegeben hat. Der lokale Partikularismus konnte sich auch immer dann hervortun, wenn er breiten Konsens über dringend erforderliche soziale Reparaturmaßnahmen herstellte. Hier wird auch der Einfluss der katholischen Kirche anzusiedeln sein, den Mazurek aus ihrer Analyse noch ausblendet.

Diese systematische Potenzialanalyse von Politikfeldern auf den unterschiedlichen Hierarchieebenen des Staatssozialismus eröffnet eine verheißungsvolle Perspektive auch auf die DDR-Geschichte. Denn noch immer ist diese zu wenig empirisch auf Basisphänomene ausgerichtet, die auf den tatsächlichen Herrschaftsbühnen zu beobachten waren. Für das Feld der lokalen Machtbeziehungen ist dem Rezensenten nur die Monografie von Philipp Springer über Schwedt erinnerlich. Diese Studie ist eine wohltuende, eigentlich: eine bahnbrechende Ausnahme, weil darin nämlich alles über lokale Netzwerke gesagt worden ist. Ist Philipp Springer bislang tatsächlich der Einzige gewesen, der die Kommunen in der DDR als selbstaktive Herrschaftsträger wahrgenommen hat? [1] Und warum schlagen sich solche empirischen Fallstudien in der Arbeit des Potsdamer Instituts bislang nicht nieder, ja werden auch nicht angemessen dort wahrgenommen? Schuhmann jedenfalls scheint sie nicht zu kennen, obgleich es doch dieser lokale Ansatz ist, der ihren Deutungshorizont wesentlich erweitern könnte. Und das gilt, noch erstaunlicher, auch für Peter Hübners Aufsatz über "Personale Netzwerke im lokalhistorischen Kontext", der sich streng genommen dann auch gar nicht darauf, sondern vielmehr auf betriebliche Sozialpolitik im Rahmen der staatlichen Ökonomie und ihrer zentralen Herrschaftsträger bezieht.

Selbstkritisch konzediert Christoph Boyer in seinem luziden Nachwort diesen Mangel im Überfluss an Monografien und Sammelbänden über die DDR. Der Überfluss steht schon lange in auffälligem Kontrast zu den überaus großen empirischen Lücken in der BRD-Geschichte. Gleichwohl ist diese, auch durch die neueren, sehr guten Gesamtdarstellungen viel stärker und angemessener konzeptualisiert worden als die durch zahlreiche Vorurteilsschübe in politischer Hinsicht überlastete und, manchmal hat man leider auch den Eindruck, geradezu überforderte institutionalisierte DDR-Geschichte. Boyer jedenfalls empfiehlt für künftige Forschungen auf diesem Gebiet eine doppelte Clusteranalyse. Man solle einerseits die Verbindungen innerhalb von Netzwerkstrukturen empirisch offenlegen und diese andererseits temporal und in ihrer institutionellen Kontinuität historisieren. Erst dann entstehe ein kontingenter Zusammenhang von Netzwerkgeschichte, nämlich dasjenige, was Boyer als den "spezifischen Evolutionspfad" lokaler Netzwerke identifizieren möchte. Dem ist nichts hinzuzufügen.


Anmerkung:

[1] Philipp Springer: Verbaute Träume. Herrschaft, Stadtentwicklung und Lebensrealität in der sozialistischen Industriestadt Schwedt, Berlin 2006.

Georg Wagner-Kyora