Berit Hildebrandt: Damos und Basileus. Überlegungen zu den Sozialstrukturen in den Dunklen Jahrhunderten Griechenlands, München: Utz Verlag 2007, 562 S., 39 Tafeln, ISBN 978-3-8316-0737-2, EUR 79,00
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Die umfangreiche Göttinger Dissertation will eine Grundlage für die Einschätzung der sogenannten Dunklen Jahrhunderte, d.h. den Übergang vom 2. zum 1. Jahrtausend bzw. von der mykenischen zur historisch griechischen Welt liefern. Die Notwendigkeit wird mit einem sich rasch wandelnden Forschungsstand begründet. Diesen will Hildebrandt mit Bezug auf alle "wichtigen" Fragen vorstellen und ihm durch eine klare methodische Positionierung den zu seiner Erfassung nötigen roten Faden geben. Hildebrandt nimmt im Gegensatz zu den ihrer Ansicht nach von "Modellen" geprägten Herangehensweisen einen "möglichst umfassenden Ansatz" für sich in Anspruch, der sowohl "materielle wie immaterielle Charakteristika einer Gesellschaft in den Blick nimmt". So sei es möglich, "bessere Fragen zu stellen" und zu einem besseren Verständnis der Phänomene zu gelangen. Mit Damos und Basileus sollen deren Reichweite umschrieben sein: Es geht um das gesamte gesellschaftliche Spektrum und seine Kontinuität von der mykenischen bis zur archaischen Zeit.
Nach Hildebrandts Verständnis beginnen die Dunklen Jahrhunderte nach dem Zusammenbruch der mykenischen Paläste um 1200 v.Chr. und reichen bis ins 8. Jahrhundert mit den ersten Zeugnissen der griechischen Alphabetschrift. Wegen des Ausgangspunktes wird folgerichtig zuerst die Geografie des Ägäisraumes in den bronzezeitlichen Schriftquellen behandelt. Dies geschieht unter zwei Perspektiven. Es sollen einerseits die politischen Gebilde dieses Zeitraums geografisch abgesteckt werden. Andererseits geht es um die Verbindung der als bronzezeitlich einzustufenden Toponyme und Ethnonyme mit solchen, die sich in den Schriftquellen der archaischen Zeit finden, wie Tanaja, Ahhijawa, Dardanya, Asja. Die Untersuchung führt weiter zur Analyse der mykenischen Gesellschaft nach den Linear-B Texten und dem Weiterleben von mykenischen Funktionärstiteln, bes. wanax und lawagetas, in nachmykenischer Zeit. Es folgt eine Besprechung der griechischen Dialekte und die Untersuchung der "Stammesnamen", d.h. der Namen der Phylen, mit denen die Dialekte chronologisch verortet und - mit diesen direkt in Verbindung gebracht - Dorier und Ionier an die Nachpalastzeit angeschlossen werden sollen. Gleichermaßen wird die "homerische Gesellschaft" als eine Zusammensetzung aus Elementen aus verschiedenen Zeitstufen angesehen, die bis in mykenische Zeit zurückführen sollen. Die "Benutzbarkeit" der homerischen Epen als Quelle für die Nachpalastzeit wird dabei vorausgesetzt. Daraus wird der Schluss gezogen, dass sich Überlieferungen historischer Gegebenheiten, wenn auch in Brechungen, vom 2. ins 1. Jahrtausend bewahrt hätten. In der neuerlichen Präsentation dieser altbekannten Position bleibt die jüngere Diskussion über den Charakter und die Möglichkeiten oraler Dichtung, einschließlich so genannter "sekundärer" Mündlichkeit ebenso wenig beachtet wie die Konsequenzen, die sich aus den unabweisbaren und textkonstitutiven Einflüssen, Motiven, Textteilen usw. aus den Kulturen des Vorderen Orients nicht nur auf Hesiod, sondern auch auf Ilias und Odyssee ergeben.
Den schriftlichen Quellen werden archäologische gegenübergestellt: Siedlungen, Heiligtümer, Gräber. Die Auswahl aus dem weiten Spektrum der Grabungsbefunde orientiert sich explizit an der von Sigrid Deger-Jalkotzy vorgelegten Übersichtskarte in deren Artikel "Dunkle Jahrhunderte" in DNP 3. Die Auswertung der archäologischen Quellen verfolgt dasselbe Ziel wie das der schriftlichen: Es wird der Aspekt einer möglichen und weitreichenden Kontinuität in den Mittelpunkt gestellt. Hildebrandt argumentiert angesichts der vielfältigen methodischen Probleme der von ihr beabsichtigten soziologischen Auswertung wie stets sehr grundsätzlich. Sie ist sich auch bewusst, dass es für sie keine einfachen "Lösungen" gibt und entscheidet sich im Einzelfall für die zu ihrer Grundlinie passende Argumentationsweise. Dieser "Bias" schlägt sich z.B. darin nieder, dass die sehr differenzierend argumentierenden Arbeiten von Oliver Dickinson keine Berücksichtigung fanden.
In der Summe führte das alles zu einer ungewöhnlich umfangreichen - nicht selten auch redundanten - Dissertation, deren auffällige Merkmale ebenso so sehr der Autorin wie dem Umfeld, in dem sie entstanden ist, zuzuschreiben sein dürften. Darunter sei hervorgehoben, dass ein der allgemeinen historischen Argumentation inzwischen ganz selbstverständlich gewordener Sachverhalt keine Rolle spielt. Eine sprachliche Verwandtschaft zwischen zwei zeitlich durch Jahrhunderte getrennten Welten ist nicht mit einer ethnischen Kontinuität gleichzusetzen; eine andere Art der Kontinuität müsste eigens und anders begründet werden. Stattdessen sollte man mit Blick auf die ersten Jahrhunderte des ersten Jahrtausends von einer griechischen Ethnogenese ausgehen, ein Vorgang, mit dem schon längst nicht mehr nur innerhalb der Beschreibung der frühmittelalterlichen europäischen Geschichte operiert wird. Nur weil dieser Sachverhalt nicht entsprechend gewürdigt wird, kann die Frage der Kontinuität über die "Dunklen Jahrhunderte" zu einem für so bedeutsam erachteten Problem werden. Die Rede von einem "mykenischen Frühgriechentum" oder dem "griechischen Raum" als Bezeichnung für die südliche Balkanhalbinsel und die Ägäis fügen sich in dieses Bewertungsschema.
Das Buch kann seinen Anspruch, einen umfassenden Ansatz zu bieten, auch deswegen nicht wie angestrebt einlösen, weil gewissermaßen die zweite Seite der Medaille auf der Ebene der Quellen fehlt. Es werden zwar hethitische und ägyptische Quellen miteinbezogen, weil das durch den seit langem verwendeten, aber nicht unumstrittenen Terminus der "Seevölker" unumgänglich ist, die "orientalischen" Quellen werden jedoch kaum einmal erwähnt, auf keinen Fall in der ihnen zukommenden Rolle besprochen. Dies wird auch daran erkennbar, dass im - ungemein umfangreichen, viele "alte" Titel enthaltenden - Literaturverzeichnis etliche Namen fehlen, welche für die jüngere Diskussion geradezu konstitutiv sind, oder nur durch einen Vortragstitel oder eine für das Thema marginale Arbeit vertreten sind: z.B. Walter Burkert, Maria Iacovou, Hartmut Matthäus, Giovanni B. Lanfranchi, Wolfgang Röllig, Robert Rollinger, Martin West. So verdienstvoll die Präsentation und Aufarbeitung der umfangreichen Literatur zur Frage der Dunklen Jahrhunderte ist, es fehlt dennoch ein wesentlicher und gerade der jüngere Teil der Diskussion des Themas. Die Arbeit gerät geradezu in Gefahr, bloß als eine wissenschaftsgeschichtliche Studie wahrgenommen zu werden, was ganz und gar nicht in ihrer Intention liegt.
Christoph Ulf